2. Die nackte Wahrheit

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-------   Kleine Philosophie der Skulptur

 

Womöglich ist die Skulptur von vornherein das Primitivere oder Natürlichere gewesen gegenüber der Malerei, also gegenüber der abstrakteren, nämlich um eine Dimension reduzierten Darstellung. Charles Baudelaire meinte: Skulptur ist in ihrer Dinglichkeit der Natur näher als das Gemälde, "weshalb unsere Bauern (so drückt Baudelaire sich aus, d.h. die niederen Klassen) in stumpfer Faszination vor dem kunstreich bearbeiteten Stein oder Holz stehen, aber unberührt vor dem schönsten Gemälde".

Allerdings, Denis Diderot, Protagonist der französischen Aufklärung und gewiss kein primitiver Bauer im Sinne Baudelaires, war gerade von der Skulptur begeistert. Er schreibt in seinen Ästhetischen Schriften (S. 486): "Ein Gemälde betrachte ich; mit einer Skulptur muß ich reden!"

Die Skulptur als reales Artefakt teilt eben mit dem lebendigen Körper die Dinglichkeit, das unmittelbare Dasein. Der Bildhauer oder Plastiker ist deshalb auch viel eher als ein Schöpfer oder Demiurg anzusehen als der Hersteller von Gemälden mit ihren bloß gemalten und zu imaginierenden Figuren.

Fürs Malen muss es bereits Dreidimensionales, d.h. im gewissen Sinne Skulpturen, geben: Körper mit ihren Flächen, Bildflächen also. Vielleicht hat die Malerei überhaupt als Bemalung von Körperflächen begonnen, als Skulpturenbemalung im Sinne von Körperbemalung. Die Natur hat das ja vorgemacht. Man denke an die Farben und Formen auf den Fellen, Gefiedern, Schuppen, also den Außenflächen (d.h. der Umform) von Tieren - und auch von den Menschen mit ihren Augenfarben, den Haarfarben, den Hautfarben, dem Lippenrot. Wahrscheinlich hat die Malerei als Skulpturenbemalung am eigenen Leibe begonnen: als Schminken, Kriegsbemalung, Tätowierung usw. Die ersten skulpturalen Artefakte gehören dazu: Amulette, Schmuckstücke, auch Penisschäfte usw.

Vielleicht ist das die wichtigste Unterscheidung von plastischen Gebilden und Bildern: Plastiken werden geliebt! Und sie sind wohl überhaupt das erste im Leben des einzelnen Menschen, was außer der Mutter geliebt wird. Die Kinder umarmen sie, wie die Mutter ihr Kind umarmt. Es sind Puppen oder simulierte Tiere. Denn als nächstes nach der Mutter werden Tiere geliebt. Auch die ältesten Zeugnisse von der Vorstellungswelt der Menschen sind Skulpturen, Kleinplastiken von Tieren und Frauen. Zum Beispiel eine ca. 30 cm hohe Holzskulptur: der ca. 30 Tausend Jahre alte Löwenmensch aus Hohenstein (der aber wohl ein Bär ist, denn damals gab es hier keine Löwen), oder das bekannteste prähistorische Werk, die Venus von Willendorf, ein fingergroßes Kalkstein-Püppchen in Gestalt einer erotischen, korpulenten Frau mit deutlicher Vulva und riesigen Brüsten. Ein Fruchtbarkeitssymbol als Handschmeichler, als Amulett? Oder gar Pornografie, besser Pornoplastie? Oder Zeugnis eines Kultes der sog. Großen Mutter?

Der nackte Frauenkörper ist ein vorzügliches Objekt der Skulptur. Er konnte in der Antike und wieder in der Renaissance als Allegorie der Wahrheit (griechisch Aletheia, wörtlich Unverhülltheit), also der nackten Wahrheit, gelten. Ich erinnere an Schillers Gedicht ,Das verschleierte Bild von Sais'. Da wird von einem Jüngling im alten Ägypten berichtet, der auf die nackte Wahrheit scharf ist und vom Priester gewarnt wird, die Wahrheit zu enthüllen. Diese Wahrheit ist eine verschleierte Isis-Statue. Als er es dennoch tut, wird er für sein ganzes Leben unglücklich.

Auf diese Allegorie der Wahrheit nimmt Nietzsche in seinem Buch Die fröhliche Wissenschaft bezug. Er distanziert sich dort von solchen Leuten, die alles enthüllt sehen wollen. Für den homosexuellen Nietzsche war die weibliche Wahrheit nämlich ein Greuel. Er schreibt: "Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?" Wer oder was ist Baubo? Es gibt von ihr eine antike Skulptur. Sie zeigt Baubo so, wie sie Goethe in Faust I 'Walpurgisnacht', als Anführerin der Hexen beschreibt. Da heißt es: "Die alte Baubo kommt allein; / sie reitet auf einem Mutterschwein.// So Ehre denn, wem Ehre gebührt! / Frau Baubo vor! Und angeführt! / Ein tüchtig Schwein und Mutter drauf, / da folgt der ganze Hexenhauf."

Die Verbindung von Schwein und Frau ist bekannt. Schweine als Opfertiere sind das erste Kulturprodukt, das sich der Verdrängung der weiblichen Sexualität verdankt, eine Vorform des Geldes, das ursprünglich Brautpreis ist (vgl. Horst Kurnitzky, Triebstruktur des Geldes. Ein Beitrag zur Theorie der Weiblichkeit. Wagenbach 1974).

Baubo stammt aus dem griechischen Demeterkult, einem Fruchtbarkeitskult. Baubo ist die Amme der Demeter. Sie reitet auf dem Schwein als Opfertier, das im besagten Kult Persephone ersetzt, die Tochter Demeters, die geopfert wird. Dabei stellt sie ihre Vulva zur Schau. Das griechische Wort Baubo bedeutet nämlich (nach Empedokles, Fragment 153) Leibeshöhle oder Vulva. Die Geste der Zurschaustellung der Vulva ist tröstend und provozierend. Baubo tröstet die um ihr Kind trauernde Demeter, indem sie auf neue mögliche Geburten verweist und damit zum Geschlechtsverkehr ermuntert. Baubo hat, so erzählt der Mythos, die trauernde Demeter tatsächlich zum Lachen gebracht (vgl. Georges Devereux: Baubo, Die mythische Vulva. Syndikat 1981).

Eine moderne Version (aus dem Jahr 1891) von Baubo stammt von Rodin. Eigentlich eine realistische Darstellung. Aber Rodin muss, wohl zur Rechtfertigung der Darstellung der obszönen Geste, auch seiner Figur einen mythischen Titel geben. Er nennt sie Iris, Sendbotin der Götter.

Ein plastisches Gegenstück zur Baubofigur ist der berühmte Barberinische Faun, 1813 aus dem Besitz der Barberini vom Bayerischen Kronprinz Ludwig I. erworben. Ein seltenes Beispiel für eine raumoffene Skulptur! Es ist ein schlafender Satyr. Im 19. Jahrhundert wurde diese Darstellung als dekadent empfunden, man traute sich nicht, die Figur schön zu finden - genauso wenig wie Rodins Götterbotin. Das Geschlecht, gerade das des sog. schönen Geschlechts, galt als unschön. Heute mag das anders sein. Jedenfalls schrieb Max Ernst, auch Dadamax genannt wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Dadaisten, dazu den schönen Satz: "Die Nacktheit der Frau ist weiser als die Lehre des Philosophen." Mit Philosoph meinte er insbesondere Kant. Der hatte schon gewisse Schwierigkeiten damit, Blumen für schön zu halten. Er meinte in seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft, das Blumen-schön-finden ginge nur insofern und solange, als man in ihnen, den Blumen, nicht ein Geschlechtsorgan, nämlich das Geschlechtsorgan der Pflanze, erkennt.

 

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-------Mit Skulpturen ausgestatteter Mensch (oder Skulptur?) in West-Neuguinea (Irian Jaya)

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-------Der sog. Löwenmensch aus Hohenstein

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-------Die sog. Venus von Willendorf

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-------Gipsabguss der nackten Wahrheit (Gemälde von Èdouard J. Dantan, 1887)

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-------Baubo (spätrömische Statuette, früher Berlin)

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-------Auguste Rodin: Iris, Sendbotin der Götter

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-------Barberinischer Faun

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