Kapitel 13
Primitive Religion (Durkheim)

Primitive Religion ist die Religion der Primitiven. Die Primitiven sind die in den primitivsten oder einfachsten Gesellschaftsorganisationen Lebenden. Sie haben die primitivsten Religionen. Denn Religion und Gesellschaft sind dasselbe. Diese Gleichsetzung ist die (z.B. von Girard gefeierte) anthropologische Intuition Durkheims. Evans-Pritchart (in Theorien über primitive Kulturen, S.95) definiert Durkheims Religionsauffassung so: “Religion ist eine soziale Tatsache. Sie entspringt der Natur des sozialen Lebens selbst und ist in den einfacheren Gesellschaften mit anderen sozialen Fakten – Recht, Wirtschaft, Kunst usw. – verbunden, die sich später von ihr abspalten und eigene, unabhängige Existenzen führen. Religion ist vor allem die Art und Weise, wie sich eine Gesellschaft über die bloße Ansammlung von Individuen hinaus versteht und wie sie ihre Solidarität und Kontinuität bewahrt.“

Durkheim möchte (in seinem Buch von 1912 Die elementaren Formen des religiösen Lebens) die „religiöse Natur des Menschen verständlich machen, d.h. uns einen wesentlichen und dauernden Aspekt der Menschheit offenbaren“ (S.18). Er hat dabei durchaus die gegenwärtigen Religionen im Blick: die Religionen bei uns, insbesondere das Christentum. Doch diese lassen sich seiner Meinung nach nur verstehen, wenn man „in der Geschichte die Art und Weise verfolgt, wie sie sich allmählich zusammengesetzt haben“ (S.20), und zwar aus primitiven oder einfachen Momenten. Zu diesen müsse man zurückgehen, meint Durkheim. Er glaubt, diese Elemente in den primitiven Religionen der Primitiven, insbesondere der australischen Ureinwohner und dann auch der nordamerikanischen Indianer gefunden zu haben. Deren primitive Religion sei der Clan-Kult oder Totemismus. Als elementare Religion sei sie ohne Rückgriff auf voraufgegangene Religionen verstehbar (vgl. S.17). Ihr entspräche die elementare Gesellschaftsform des Clans.

Vor der Untersuchung der Clangesellschaft und des Totemismus gibt Durkheim eine Definition der Religion, ohne damit schon „das tiefste und wirklich erklärende Wesen der Religion zu erreichen“, was erst am Ende der Untersuchung möglich ist. Aber er möchte mit der „vorgängigen Definition“ den Fehler vermeiden, den seiner Meinung nach Frazer (Der goldene Zweig, 1890) gemacht hat, der ohne eine solche Definition verfuhr, und den „tiefen religiösen Charakter der Glaubensüberzeugungen und Riten“, die Durkheim bei den Primitiven untersucht, nicht erkannt hat. (Durkheim, S.45) - Was ist nun das Religiöse? Sein allgemeines Charakteristikum ist nach Durkheim weder das Übernatürliche noch das Göttliche, sondern die Unterscheidung profan/heilig (vgl. Durkheim, S. 45 ff).

Das Übernatürliche setzt den Begriff des Natürlichen voraus, also den einer natürlichen Ordnung und von Naturgesetzen. Das sind aber keine primitiven Vorstellungen, sondern Errungenschaften der „positiven Wissenschaften“, meint Durkheim. „Darum waren die wunderbaren Eingriffe, die die alten Völker ihren Göttern zuschrieben, keine Wunder im heutigen Sinn des Wortes. Für sie waren es schöne, seltene od er schaurige Schauspiele, Gegenstand der Überraschung und des Entzückens (thaumata, mirabilia, miracula); sie sahen darin keinen Ausflug in eine mysteriöse Welt, in die die Vernunft nicht eindringen kann.“ (S.49)

Und was das Göttliche betrifft als vermeintlich allgemeines Charakteristikum des Religiösen: „Es gibt ... Riten ohne Gott und sogar Riten, aus denen Götter abgeleitet worden sind. Nicht alle religiösen Tugenden entspringen aus göttlichen Persönlichkeiten, und es gibt kulturelle Beziehungen, die ein anderes Ziel haben, als den Menschen mit einer Gottheit zu verbinden. Die Religion geht also über die Götter- oder Geisteridee hinaus und kann folglich nicht ausschließlich in bezug auf sie definiert werden.“ (S.60) Der ursprüngliche Buddhismus (später wurde er mit Götterkulten verbunden) kommt ohne Gott und Götter aus (der Jainismus auch). In den vier Heiligen Wahrheiten des Buddha (1. Leiden ist Teil des ewigen Flusses der Dinge, 2. Grund des Leidens ist der Wunsch, 3. die Unterdrückung des Wunsches überwindet das Leiden, 4. Rechtschaffenheit, Meditation und Weisheit führen zur Überwindung des Leidens.) kommt Gott nicht vor.

Aber die Unterscheidung profan/heilig kommt nach Durkheim in „allen bekannten religiösen Überzeugungen“ vor. Dabei können alle Dinge heilig sein und dies in verschiedenen Graden. Auch der Wechsel beider Welten ist möglich (durch Metamorphose). „Charakteristisch für das religiöse Phänomen ist aber, dass es immer eine zweiseitige Teilung des bekannten und erkennbaren Universums in zwei Arten voraussetzt, die alles Existierende umfasst, die sich aber gegenseitig radikal ausschließen. Heilige Dinge sind, was die Verbote schützen und isolieren. Profane Dinge sind, worauf sich diese Verbote beziehen und die von den heiligen Dingen Abstand halten müssen. Religiöse Überzeugungen sind Vorstellungen, die die Natur der heiligen Dinge und die Beziehungen ausdrücken, die sie untereinander oder mit profanen Dingen halten. Riten schließlich sind Verhaltensregeln, die dem Menschen vorschreiben, wie er sich den heiligen Dingen gegenüber zu benehmen hat.“ (S.67)

Dieses Charakteristikum passt auch auf Magie. Magie hat aber keine Gruppe als Unterbau, wie die Religion. Es gibt keine magische Kirche. Durkheim schließt deshalb ´Kirche´ in seine endgültige Definition der Religion ein (und damit die Magie aus): „Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die auf heilige Dinge bezogen sind, d.h. auf isolierte und verbotene Dinge – Glaubensvorstellungen und Praktiken, die alle Anhänger in einer einzigen sittlichen Gemeinschaft, der Kirche, vereinigen.“ (Evans-Pritchard, S.96; vgl. Durkheim, S.75)

Mit dieser vorgängigen Definition der Religion macht Durkheim sich nun an die Arbeit, die primitive Religion des Clan-Kultes bzw. des Totemismus zu untersuchen. – Zunächst: Was ist ein Clan? Der Clan ist eine Menge von Verwandten (nicht notwendig Blutsverwandten), wobei die Abgrenzung von Clan gegen Horde, Nation und Familie schwierig ist. Die Funktion der Religion soll es – nach Durkheim – sein, die Solidarität der dieser Menge/Gruppe aufrecht zu erhalten, Zusammengehörigkeitsgefühl zu erfahren. Im gewissen Sinn wäre Religion dann ein „Nebenprodukt des Herdeninstinktes“, merkt Evans-Pritchard (in Theorien über primitive Religionen, S.110) an. Kritisch wendet er auch ein, dass die Clanmitglieder in Australien kein einheitliches Territorium haben und in verstreuten Gruppen leben. „Warum soll aber durch Zeremonien die Solidarität unverbundener sozialer Gruppierungen aufrechterhalten werden, die außer diesen Zeremonien keine gemeinsame Aktion kennen?“ (Evans-Pritchard, S. 107)

Und wieso ist die elementarste Religion der Totemismus? – Weil er zur Clangesellschaft gehört. Durkheim hat das von Robertson Smith. Von ihm übernahm er vier Grundgedanken (erklärt uns Evans-Pritchard, S.95):

1. dass die primitive Religion ein Clankult und 2. dass dieser Clankult totemistisch sei (er glaubte, Totemismus und das Einteilungssystem der Clans bedingten einander von Natur aus); 3. dass der Gottt des Clans der spiritualisierte Clan selbst und 4. dass der Totemismus die elementarste und primitivste und in diesem Sinne ursprünglichste Religion sei.“ Das Objekt, welches die totemistische Religion verehrt, ist die Gesellschaft selbst. – Es muss angemerkt werden, dass es Clankulturen ohne Totemismus gibt und Totemismus ohne Clan. Smith und Durkheim übersehen das.

Was ist nun ein Totem? – Ein Totem ist eine Gattung von Naturphänomenen, meist Tiere und Pflanzen, die mit dem Clan verbunden ist. Es drückt die Einheit und Exklusivität des Clans aus. Das Totem ist also ein materielles Symbol, um sich als soziale Gruppe zu verstehen. Die Menschen des Clans nennen sich z.B. Krähen, weil ihr Clan das Totem ´Krähe´ hat. Die Totems repräsentieren eine unpersönlich Macht. Das Totem ist dem Clan heilig, es darf z.B. nicht gegessen oder verletzt werden.

Arnold Gehlen sieht im Totemismus (genauer: im Tier-Totemismus) die weltweite Kulturform, in der die Menschheit den Kannibalismus überwand, und in der der Mensch das Selbstbewusstsein entdeckte. Er schreibt (in Der Mensch, S.398): Indem nämlich die einzelnen Mitglieder der Gruppe sich je mit demselben Totemtier identifizieren und darin nicht nur ihr Selbstbewusstsein entdecken, sondern einen gemeinsamen Konvergenzpunkt des Selbstbewusstseins aller finden, und indem die gemeinsame Verpflichtung des Nichttötens und Nichtessens des Tieres die Form darstellt, in der dieses Bewusstsein sich in eine Verpflichtung, d.h. in ein asketisches Handeln übersetzen kann, verhindert dieses Tötungsverbot zugleich den Mord und das Fressen des Gemordeten in der eigenen Gruppe, weil ja jeder einzelne sich gegenüber jedem anderen mit dem Totem identifiziert hat. Das heißt: die so vorstellbar gewordene Gruppeneinheit stellt sie tatsächlich her. Der Totemismus ist daher als diejenige weltweite Kulturform aufzufassen, in der die Menschheit die Anthropophagie überwand, und daraus erklärt sich ihre Stabilität und ihr ungeheures Gewicht. Wir müssen die vortotemistischen Gruppen als unstabil und fluktuierend auffassen, mit einer immer wieder hervorbrechenden Möglichkeit der Tötung und Menschenfresserei in der eigenen Gruppe. .... Kraft derselben totemistischen Identifikation kann die Aggression gegenüber der benachbarten Gruppe des anderen Totems auf deren Totemtier abgelenkt werden, das zu töten erlaubt ist, und die Gewohnheit der Anthropophagie wieder wird abgeleitet auf die seltene, ausnahmsweise und unter großem Zeremoniell erlaubt Tötung und Verzehrung des eigenen Totemtieres.“

Auch eine Art Naturerkenntnis ist im Totemismus vorgezeichnet. Denn: „Jedem Clan sind noch weitere Naturphänomene zugeordnet, so dass das Gesamte der Natur der Gesamtheit der Clansymbole entspricht. Auf diese Weise ist die Sozialstruktur das Modell für die Klassifizierung von Naturphänomenen“, schreibt Evans-Pritchard S.98 (müssten dann aber nicht die vielen verschiedenen Clans von einander wissen und auch im sozialen Zusammenhang stehen? Müssten sie nicht verschiedene Totems haben? Wie, wenn 20 Krähen-Clans aufeinander träfen?).

Das spezifisch Religiöse betrifft die rituelle Seite des australischen Totemismus. (Nach Evans-Pritchard ist das der dunkelste Teil von Durkheims These.) Evans-Pritchard referiert Durkheim: „Die Mitglieder eines Clans, wahrscheinlich größtenteils auch Mitglieder des gleichen Stammes, treffen sich in regelmäßigen Abständen zu Zeremonien, die die Spezies“ (die Totems?) „vermehren sollen, zu der sie eine heilige Beziehung haben. Da sie ihre Totemtiere und –pflanzen nicht essen dürfen, sollen die Riten den Mitgliedern anderer Clans nützen, denen dies erlaubt ist. Auf diese Weise tragen alle Clans zu der allgemeinen Nahrungsmittelbeschaffung bei. So nennen die Primitiven zwar den Zweck der Riten, aber manifeste Ziele und latente Funktion sind nicht das gleiche. Durkheim gibt eine soziologische Interpretation ihrer Zeremonien, die sich an keine Stelle mit ihrer eigenen Auffassung von dem, was sie tun berührt – falls das überhaupt der Zweck ihrer Zeremonien für sie ist, was nicht sicher scheint.“ (S.101 f)

Das Totem kann z.B. eine nicht-existente, also auch nicht vermehrungsfähige Schlange sein. Das explizite Ziel der Riten ist anscheinend völlig nebensächlich. Es kommt wohl nur darauf an, eine Art Überschwang zu erzeugen, in dem alle Individualität verloren geht und die Menschen sich in ihren heiligen Dingen und durch sie als Kollektiv fühlen. Durkheim: „Die Lebensenergien sind übersteigert, die Leidenschaften heftiger, die Gefühle stärker; einige werden überhaupt nur in diesem Zeitpunkt produziert. Der Mensch kennt sich selbst nicht mehr, er fühlt sich verwandelt und verwandelt folglich seine Umwelt. Um seine sehr besonderen Eindrücke zu erklären, verleiht er den Dingen, mit denen er in unmittelbarem Kontakt steht, Eigenschaften, die sie nicht besitzen: außergewöhnliche Kräfte und Qualitäten, die die Gegenstände der alltäglichen Erfahrung nicht haben.“ (E.-Pritchard S.102 f)

Indem Durkheim die Ideen der Heiligkeit, der Seele und Gottes bei den Australiern soziologisch erklärt, gilt das für Religion allgemein, weil jene Ideen Elemente aller Religionen sind. Durkheim betont: Religiöse Vorstellungen werden hervorgerufen durch die Synthese individueller Geisteszustände bei kollektiven Handlungen. Religion ist also ein soziales Phänomen. Evans-Pritchard meint (S.104): „Wenn Durkheims Religionstheorie stimmt, wird niemand mehr Glaubensvorstellungen akzeptieren“. Diese Vorstellungen werden ja vom sozialen Leben selbst produziert, weil sie zu seiner Erhaltung notwendig sind. D.h.: Das soziale Leben erhält sich mittels solcher Vorstellungen. Es sind Zwangsvorstellungen, die sich bei den Ritualen einstellen und durch sie erneuert oder reproduziert werden. Und diese Rituale werden veranstaltet, um sich des Kollektivlebens zu versichern, also letztlich des im allgemeinen Leben aufgehobenen eigenen Lebens.

Wollen wir das, müssen wir an Göttliches glauben, muss es Heiliges für uns geben und die Seele unsterblich? Beweise für Heiliges, Seele und Gott? Das Kollektivleben! (´Seele´ z.B. meint nichts anderes als individualisierte Gesellschaft, die Gesellschaft in uns, die natürlich beim Tod des Einzelnen überlebt.) Bei einem bestimmten Grad von Intensität ruft das Kollektivleben religiöses Denken hervor, meint Durkheim. Eben jene Bewusstseinsveränderungen, welche über die Welt profanen Lebens eine andere höheren Ranges stülpen. - Und wenn man diese durch Drogen oder einsame Meditation erzeugt? Ist die Religion dann nur noch soziales Phänomen? Allenfalls so, wie Drogenkonsum und Meditieren etwas Soziales sind.

Durkheim möchte auf Ideen und Gefühlsregungen mit der Funktion der Erhaltung sozialen Lebens nicht verzichten. Er meint und hofft, dass nach dem Ende der Religion im spirituellen Sinne, das er kommen sieht, eine säkulare Versammlung (anstelle von Riten z.B. das Parlament) Ideen und Gefühlsregungen produzieren könnte, die die gleiche Funktion haben wie die religiösen Ideen aus dem rituell gesteigerten Kollektivleben der Primitiven. Durkheim denkt an die Französische Revolution mit ihrem Kult von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Vaterland und Vernunft. Wie Comte oder Saint-Simon hofft er darauf, dass „eine säkularisierte, humanistische Religion an die Stelle der untergegangenen spirituellen treten werde.“ (Evans-Pritchard, S. 104 f)

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