Kapitel 7
Nah-Todeserfahrung und Außerkörperlichkeit (Schröter-Kunhardt)

„Das Jenseits ist in uns – Nah-Todeserfahrungen“ überschreibt Michael Schröter-Kuhnhardt seinen Beitrag im SWR2 am 1. November 2002. Darin berichtet er: Erlebnisse in Todesnähe, sog. NDE (near-death-experience)-Phänomene, zu denen auch Erlebnisse von Außerkörperlichkeit, sog. OBE (out-of-body-experience)-Phänomene, gehören können, kommen bei ca. 20% der Menschen vor, die in Todenähe geraten (z.B. bei Atem- und Herzstillstand). Und letztere sind mindestens 7% der Menschen überhaupt. Übrigens muss man sich nicht in Todesnähe befinden, um solche Erlebnisse zu haben. Manche Menschen haben sie schon bei bloßer Todeserwartung. Natürlich weisen die NDE wie alle Bewusstseinszustände und eben auch alle mystischen Zustände biochemische Korrelate auf und können entsprechend beeinflusst und ausgelöst werden. Halluzinogene wie LSD, Meskalin, Ketamin und Haschisch können bei bis zu 80% der Versuchspersonen Elemente von NDE hervorrufen. Insbesondere können Reizungen der rechten Schläfenlappenregion OBE zur Folge haben. Sauerstoffmangel bzw. Kohlendioxidüberschuss sind nur mögliche, nicht notwendige Auslöser. Endorphine sind, da sie keine Bilder (und Bilder sind die Hauptkomponente von NDE) entstehen lassen, nicht grundlegend für NDE.

NDE-Phänomene geben den Betroffenen den Eindruck von einer anderen, spirituellen Welt. - Ist NDE also der Grund, warum so viele Menschen (45% waren es 1996 in Deutschland) an ein Leben nach dem Tode glauben? Zu jeder Religion gehört ja ein solcher Glaube! – Jedenfalls, so Schröter-Kunhardt, „sind die Nah-Todeserlebnisse die häufigsten und grundlegendsten religiösen Erfahrungen aller Religionen aller Zeiten.“ (Das Jenseits ist in uns, S.1)

Anscheinend gibt es eine universelle biologische Anlage für Nahtoderfahrungen im Gehirn, denn Alter, Geschlecht, Einkommen, Rasse, Herkunft, Bildungsstand, Beruf und sogar die Religion spielen für das Auftreten und die stereotypen Elementen von NDE keine Rolle, lediglich ihre Ausgestaltung variiert nach Persönlichkeit, Religion und Kultur des Betroffenen. Auch unwissende, selbst vorsprachliche Kinder machen dieselben Erfahrungen.

Die Hauptelemente dieser Erfahrungen sind folgende: 1. Ruhe, Gelassenheit und Frieden, 2. Trennung von Ich-Bewusstsein und der Körperwahrnehmung (OBE), 3. Schmerzfreiheit, 3. Flug durch einen Tunnel (übrigens keine wiederbelebte Geburtserfahrung: sie ist angenehm und kommt bei Kaiserschnitt-Geborenen genauso häufig vor wie bei normal Geborenen), 4. Zischen, Summen, Klingen, Stöhnen, Jammern, 5. harmonische Musik, 6. Licht am Ende des Tunnels mit dem Gefühl der Glückseligkeit, Liebe und Allwissenheit, 7. Eine schöne, kultur- und religionsspezifische Landschaft, 8. Begegnung mit Verstorbenen und Lichtfiguren, 9. Erlebnis einer Grenzzone (Fluss, Zaun, Tore), die nicht überschritten werden darf, da das eine Rückkehr in den Körper unmöglich machen würde, 10. der Lebensfilm, manchmal mit ethischer Bewertung, 11. (Zukunfts-)Visionen und 12. Gefühl der Zeitlosigkeit.

Schröter-Kunhardt führt einen NDE-Bericht an, der sofort an Parmenides denken lässt: „Es rauschte in meinen Ohren, plötzlich fühlte ich mich so frei und schwebte in einen Tunnel hinein, wo ich in der Ferne ein strahlendes Licht sah. Die Reise ging schnell und das Licht kam immer näher. Ich fühlte mich so wohl ... Eine Stimme teilte mir mit, dass ich eine Wahl hätte, diese Schwelle zu übertreten, aber dann nicht zurück könnte. Das irdische Licht strahlte vor mir. In der Ferne sah ich weiße Gestalten. Ein Glücksgefühl überkam mich und die Sehnsucht, die Schwelle zu übertreten, aber ich erinnerte mich meiner drei Kinder und sagte, dass ich zurück müsste. ´So sei es´, hörte ich noch, dann ging es zurück in den dunklen Tunnel und plötzlich spürte ich mich wieder in meinem Körper.“ (S. 2) - Es gibt auch ein höllisches Jenseits mit bedrohlichen Wesen (Dämonen), wie der Erlebnisbericht über einen (missglückten) Selbsttötungsversuch zeigt.

Die Nah-Todeserfahrungen weisen „alle religions- und kulturunabhängigen Eigenschaften mystischer Erfahrung auf: Einheits-Erleben, Überschreiten von Raum und Zeit, tief empfundene positive Stimmung, Gefühl der Heiligkeit, der Objektivität und Realität, Unaussprechlichkeit, scheinbare Widersprüchlichkeit, Flüchtigkeit des Erlebens sowie anhaltende positive Veränderung in Einstellung und Verhalten. Damit sind die Nah-Todeserfahrungen die häufigsten mystischen Erfahrungen überhaupt!“ (S. 5)

Ihre in allen Kulturen vorkommenden sehr ähnlichen göttlichen und dämonischen Bilder bzw. Visionen sind der gewöhnlichen (mit Verdrängung und Wunscherfüllung arbeitenden) Psychoanalyse nicht zugänglich, d.h. der Freudschen. Eher lassen sie sich mit C.G. Jungs Archetypenlehre verstehen, meint Schröter-Kunhardt. Weder lassen sich die Nah-Todeserlebnisse einschließlich der mit ihnen verbundenen OBE-Phänomene mit Wachträumen gleichsetzen (solche enthalten nicht wie NDE universell gleiche Grundelemente), auch nicht mit Halluzinationen (ein Drittel von 288 außerkörperlichen Erlebnissen enthielten nachweisbar richtige außersinnliche Wahrnehmungen).

Außersinnliche Wahrnehmungen hält Schröter-Kunhard für das Entscheidende, denn er schreibt: „Zwar handelt es sich bei den Nah-Todeserfahrungen möglicherweise um eine bloße Wanderung durch mentale Selbst- und Weltmodelle. Je größer jedoch die Todesnähe, desto mehr kommt es dabei zu außersinnlicher Wahrnehmung und damit auch zu wirklichen Außerkörperlichkeits-Erlebnissen, die von den imaginierten oder halluzinierten außerkörperlichen Erlebnissen schon vorbereitet werden. Demnach würde es sich bei den Nah-Toderlebnissen also um eine Art Vorspiel oder Simulation eines wirklichen Lebens nach dem Tod handeln, das in den Nah-Todeserfahrungen aber schon – in Form von Traumbildern angedeuteten bzw. versteckten, aber auch in außersinnlich wahrgenommenen Informationen – hindurchschimmert.“ (S. 10)

„So wie Wachträume und außerkörperliche Erlebnisse also die physikalische Wirklichkeit symbolisiert darstellen bzw. nahezu perfekt imitieren, so könnten auch Nah-Todeserlebnisse eine jenseitige Wirklichkeit in symbolischer Repräsentation widerspiegeln bzw. imitieren! Oder anders ausgedrückt: So wie unsere alltäglich Wahrnehmung nur eine illlusionäre Verkennung und somit eine repräsentionale Interpretation der physikalischen Realität darstellt, so könnte auch das Nah-Todeserlebnis eine illusionäre Verkennung einer ebenfalls nur verfremdet, d.h. in Gehirn-eigenen, im Nah-Todeserlebnis noch traumhaft gestalteten Bildern wahrgenommenen jenseitigen Wirklichkeit sein!“ (S. 11)

„In Nah-Todeserfahrungen würde sich somit ein objektives Jenseits – und damit eine Aufhebung der Grenzen von Geist und Materie – zumindest andeuten, auch wenn dieses Jenseits noch in subjektiven und darum sowohl individuell variierenden als auch noch kontrollierbaren Bildern erfasst wird. Paranormale Leistungen von Lebenden wie Sterbenden und ihr vermehrte Auftreten im Rahmen von religiösen Erlebnissen (im Sterben) bzw. bei religiösen Menschen (z.B. bei Jesus) verweisen auf jeden Fall auf einen Zeit- und Raum-unabhängigen und somit unsterblichen Anteil der menschlichen Psyche, der generell als unsterblich Seele bezeichnet wird und nach dem Tod weiterlebt.“ (S. 11)

Dazu Fragen bzw. Einwände:

1. Wieso ist die physikalische Welt als etwas (exakt oder verkannt) Repräsentiertes bekannt? – Weil ich mich zugleich mit dem anderen (dem ich kommunikativ verbunden bin und der in dieser Realität als Körper vorkommt) auf sie beziehen kann, d.h. durch Vorstellung von mir als möglichen Anderen.

2. Kann man die Wahrnehmung der Realität als Hirnleistung gleichsetzen mit Wahrnehmung der spirituellen Welt? - Im Tod (des anderen und meiner selb als eines anderen) verschwinden die Hirnleistungen, aber nicht das durch sie Erfahrene: die sinnliche Realität einerseits, die spirituelle möglicherweise andererseits. Aber: Die sinnliche Welt verschwindet doch auch – denke ich an mein Welterleben. Das Fortbestehen gilt nur, weil ich nicht tot bin wie der andere, der Tote. Das Fortbestehen bezieht sich auf mein Erleben derselben Realität, die der andere erlebt. Beim Aufhören seiner NDE, seiner Erfahrung der anderen Welt, besteht mein Erleben dieser anderen Welt ja nicht weiter. Nur wenn ich gleichermaßen NDE hätte wie zugleich der andere und ich wie der andere in dieser spirituellen Welt objektiv vorkämen, könnte ich feststellen, dass, wenn der andere zu erleben bzw. die spirituelle Welt zu erfahren aufhörte (d.h. mit seiner dafür verantwortlichen Hirnfunktion aufhörte, nur das ist ja objektivierbar), die durch die Hirnfunktion erfahrende spirituelle Welt weiterbestünde, d.h. dass es sie als erfahrbare Realität gäbe.

Schröter-Kunhardt kommt es auf die nachweislich realitätsbezogenen paranormalen Fähigkeiten wie Prägognition oder Hellsehen im NDE Zustand an, weil er durch sie auch die Erlebnisse einer anderen Welt im NDE als Realitätserfahrungen (aber eben Erfahrungen einer anderen und höheren Realität, des Jenseits eben) als wahrscheinlich ansehen kann.

3. Spricht man, wie Schröter-Kunhardt, von biologischer Anlage, hier der NDE-Fähigkeit von Menschen (von Tieren weiß man noch nichts diesbezüglich), wird man sich die Frage nach dem biologischen Sinn, d.h. dem Selektionsvorteil dieser Anlage gefallen lassen müssen. Solange sich Evolution nur im Diesseits abspielt, wird man NDE als Vorbereitung auf das Leben nach dem Tod (was vorteilhaft sein könnte für das spätere Jenseitsleben) nicht gelten lassen.

Könnte NDE ein letzter Versuch zu Rettung des Selbst angesehen werden, als eine Art Notprogramm des sterbenden Individuums? Dafür spräche (schreibt O. Eisen in einem Mspt. zu Schröter-Kunhardts Thesen), „dass es sich um eine dissoziative Leistung handelt, die dem Subjekt bei intaktem Ich die Möglichkeit zu einem neutralen, beobachtenden Denken gibt, frei von der emotionalen Betroffenheit, die in üblichen Notsituationen oft lähmend sein kann. ... Inwieweit auf biologischer Grundlage dann tatsächlich Erfolgsaussichten zur Rettung des Selbst anzunehmen sind, bleibt allerdings zu fragen.“ Sind Individuen mit einem solchen Notfallprogramm selektiert worden, d.h. sind die aufgrund ihres NDE-Programms Nah-Tod-Überlebenen die ´Fiteren´ gewesen und haben dieses Programm genetisch weitergegeben?

Vielleicht hat es keinen biologischen Sinn, vielleicht realisiert sich hier der reine, vom Körper als Erkenntnishindernis, wie Platon das sah, gelöste reine Geist. Hegel, der Philosoph des absoluten Geistes, hatte denn auch in den parapsychologischen Phänomenen einen brutal faktischen, dem Skeptizismus des Verstandes Trotz bietenden Beweis gesehen für „das sichtbar Sichlosmachen Geistes von den Schranken des Raumes und der Zeit und von allen endlichen Zusammenhängen.“ (Hegel, Enzyklopädie III, S.379, Zusatz; Werke Bd.10, S.16) Möglicherweise könnte dann die NDE-Situation als höchste Gehirnleistung angesehen, „die diese Leistung viel weiter raum- und zeitgreifend zu sein scheint, als unter normalen Bedingungen möglich. Andererseits muß diese Ansicht eingeschränkt werden, denn dieses Ich-Erleben ist ja nicht wirklich ´ungestört´. Denn es läuft in gewissen, vorgegeben Bahnen ab, d.h. der Sterbende denkt nicht irgendetwas, sondern er hält sich an das ´Schema´ des NDEs.“ (Eisen, Manuskript)

Schröter-Kunhardt bleibt dabei: „Phänomenologisch handelt es sich bei den NDEs ... um Höchstleistungen des Gehirns, die im Gegensatz zu allen Erwartungen angesichts eines oft schon physiologische geschädigten Gehirns sinnesphysiologisch unerklärliche reale und außersinnliche Wahrnehmungen, einen Lebensfilm unter Aufhebung der Zeitdimension, höchste menschliche Gefühlszustände und Sinn bzw. Werterfahrungen mit einer außerordentlichen psychotherapeutischen Effektivität ermöglichen. Dies setzt die Aktivierung einer komplexen Struktur hierarchischer neuronaler Verschaltungen voraus, deren Effektivität und Genialität eine biologisch-genetische Basis für diesen Schaltplan implizieren. Somit handelt es sich weder neurophysiologisch noch phänomenologisch um ein pathologisches Geschehen; vielmehr sehen wir hierin die höchste Leistung des menschlichen Gehirns überhaupt. In ihr zeigt sich das Ziel jeglichen menschlichen Lebens und das Wesen des Menschen als ein hochethisches spirituelles Wesen überhaupt. Alle religiösen und paranormalen Erfahrungen haben hier ihren Ursprung und ihren Sinn und verweisen in aller Deutlichkeit auf ein Leben nach dem Tod. Der universelle Glaube an religiöse Werte und die Unsterblichkeit des Menschen hat somit eine biologische Basis, die den Ungläubigen immer zum Unwissenden macht: HOMO RELIGIOSUS SAPIENS EST! (´Mögliche neurophysiologische Korrelate des NDE´ in: Welten des Bewusstseins Bd.2, S.57-75, hier S.56 f).

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