Kapitel 5
Gnosis (Sloterdijk, Macho)

Bei allen Diskrepanzen unter den Glaubensbekenntnissen, schreibt James, gibt es doch einen gemeinsamen Kern, eine gewisse einheitliche Botschaft. Diese besteht aus zwei Teilen: „1. einem Unbehagen, und 2. der Befreiung von ihm. 1. Das Unbehagen besteht ... aus dem Gefühl, das mit unserem natürlichen Zustand irgend etwas nicht stimmt. 2. Die Befreiung besteht aus dem Gefühl, dass wir von der Unstimmigkeit geheilt werden, wenn wir mit den höheren Mächten in die richtige Verbindung treten.“ (Die Vielfalt der religiösen Erfahrung, S. 487)

Es mag dahingestellt bleiben, ob dies tatsächlich auf alle Glaubensbekenntnisse zutrifft, es trifft sicher für die Erlösungsreligionen (die drei abrahamitischen Monotheismen Judentum, Christentum und Islam, sowie Hinduismus und Buddhismus) zu, für den intellektuellen Gehalt der dort mit dem Glauben verbunden ist. Was James formuliert, entspricht jedenfalls dem Programm der Gnosis, einer religiösen Bewegung, die im 2. Jh. n. Chr. aufkam.

Gnosis heißt Wissen. Gemeint ist ein mystisches Heils- oder Erlösungswissen, das dem Menschen hilft, sich von der Welt, die ein böser Dimiurg geschaffen hat und in der die Mächte der Finsternis herrschen, zu befreien. Einst sei der Urmensch der niederen Natur in Liebe verfallen und in einen unvernünftigen Leib niedergesunken, so lautet eine gnostische Fabel. Die Ursache des Falles des Menschen ist demnach der Eros. „Wir werden als Verkehrte geboren. Die Ordnung wiederherstellen, heißt, das Geschöpf in uns auflösen,“ meint Simone Weil, die sich zu Tode hungerte.

Im ägyptischen Nag Hammadi wurden 1946 gnostische Texte gefunden, 52 Abhandlungen in koptischer Sprache, die zu Beginn des 5. Jahrhunderts dort versteckt wurden. Sie enthalten Abschriften und Übersetzungen frühchristlicher Texte, die von der Kirche als häretisch verdammt wurden. Denn dort erscheint Jesus als ein gnostischer Lehrer, d.h. ein Lehrer, der geheimes Wissen hat, das nur Eingeweihten verständlich wird. Nach Ansicht der Gnostiker konnten nur spirituelle reife Menschen Jesu wahre Lehre fassen. Dass das Königreich des Himmels eine gegenwärtige Realität sei, sei nur durch die persönlich Wahrnehmung des Lichts erfahrbar. Die Gnostiker setzten also auf die persönliche religiöse Erfahrung, insbesondere die mystische Erleuchtung. Dagegen setzte das Christentum auf die Institution Kirche, eine Kirche für alle. Als im 4. Jh. Der neutestamentliche Kanon von 27 Schriften aufgestellt und ins Lateinische übersetzt wurde, blieben die gnostischen Evangelien ausgeschlossen. (Vgl. hierzu Mary Pat Fisher Religionen heute, S. 282 f)

In den synoptischen Evangelien sind aber genug gnostizistische Themen zu finden. So heißt es in der Bergpredigt (Mt 5:8): „Selig. Die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen“. Gottesschau ist das Ziel der Gnosis. Gottesvisionen eines Menschen gibt es in der Hl. Schrift sonst nur bei Moses und Ezechiel, nur die haben Gott geschaut. Jesus spricht auch, kurz vor seiner Verhaftung, vom „Fürsten der Welt“, dem gnostischen Demiurg oder Teufel, dem die materielle Welt gehört, die erst mit Jesus Christus erlöst wird. (Joh 14:30) „Jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden“, heißt es Joh 12:31.

Anfang der Gnosis ist das Gefühl der Fremdheit in der Welt, in die der Mensch geworfen ist, und die Sehnsucht nach Heimkehr der Seele zu ihrem Ursprung: Gott. Der böse Demiurg will aber, dass der Mensch seine Heimat vergisst, der Welt verfällt und seinem Ursprung entfremdet bleibt. Die Wende zum Guten bzw. die Errettung aus der Welt kann nur durch einen Retter, einen Heilsboten oder Gottessohn kommen. Er führt die Menschen aus der Finsternis zum Licht (vgl. Philosophie Schnellkurs, S. 56)

In Heideggers Aufbruch ins eigentliche Dasein aus der Seinsverlassenheit und Entfremdung finden wir die Gnosis wieder. In seinen Beiträgen zur Philosophie schreibt Heidegger: „Die Nähe aber klingt an im Anklang des Seyns aus der Erfahrung der Not der Seinsverlassenheit. Diese Erfahrung jedoch ist der erste Aufbruch zum Sturm in das Dasein. Denn nur wenn der Mensch aus dieser Not herkommt, bringt er die Notwendigkeiten zum Leuchten und mit diesen erst die Freiheit zur Zughörigkeit zum Jubel des Seins.“ (Weltreligion der Seele, S. 693)

Das Auslösungsmoment für das Phänomen der historischen Gnosis sei Freude und grenzenloser Jubel über das von Gott erlangt Erlösungswissen, schreibt Barbara Aland (in P. Sloterdijks und Th. H. Machos Lese- und Arbeitsbuch der Gnosis Weltrevolution der Seele, S. 693). „Das Evangelium der Wahrheit ist Freude für die, die vom Vater der Wahrheit die Gnade empfangen haben, ihn zu erkennen.“ So beginnt das zu den Schriften von Nag Hamadi (Codices I und XII) gehörende gnostische Evangelium Veritatis. Das einzige Interesse, das der Gnostiker in dieser Welt haben kann, ist das der Verkündigung, des Weitersagens der empfangenen Offenbarung.

„Der Mensch ist zwar in der Welt, aber nicht von der Welt“, schreibt Gilles Quispel (Weltrevolution der Seele I, S. 242). Sloterdijk nennt das „die gnostische Differenz“. Sie bedeute, so erklärt er, eine revolutionäre Lokalisationsformel für die menschliche Existenz. „Das Pneuma, die gnostische Geistseele, die von oben kommt, ist das Organ dieses logisch neuartigen Wissens vom Existieren: es ist das Pneuma, welches sich in der Welt wie etwas von außen Hineingeratenes sehen kann – etwas Differentes, Nichtzugehöriges, Rückzugsfähiges. Gnosis ist die Entzündung des menschlichen Selbstbewusstseins durch den Grundgedanken des Existierens in der Welt. ... Die gnostische Differenz schafft eine neue Sprache der Unzufriedenheit mit der Welt – löst dem stummen Geist der großen Verneinung die Zunge. Indem sich die Seele eigentlich einer weltlosen Sphäre zurechnen darf, gewinnt sie vom unvernehnbaren Ort In-der-Welt aus die Möglichkeit, alles zu Verneinen, was Von-der-Welt ist.“ (Weltrevolution der Seele I, S. 29 f) So signalisiert das Wort Freude im Evangelium Veritatis das Novum: seit alles, was von der Welt stammt, negierbar wurde, klingt in der Welt ein neuer Ton: jubilatorosche Dissidenz.“ ( S. 37)

Vom elitären Heilswissen, von der mystischen Schau des unerkenbaren Gottes, ist dabei allerdings nichts mehr geblieben. Tatsächlich ist die Gnosis als organisierte Bewegung mit ihren unzähligen Sekten an ihrer „Verblasenheit“ zugrunde gegangen, schreibt Messadié (in seinem Buch Die Geschichte Gottes). Er zitiert einen Text des Dionysos Areopagita Über die mystische Theologie. Das Postulat der Unfasslichkeit und Undefinierbarkeit wird hier in so systematischer Art vorgeführt, dass Gott gewissermaßen dem Nichts gleichgesetzt wird. Der Text ist ein Beispiel für das Delirium, in das die Anstrengung einer Definition Gottes ausufern kann, wenn sie allen Fußangeln einer Darstellung Gottes ausweichen will. Der Text lautet: „Wir sagen also (von Gott) aus, das die Allursache, die auch alles transzendiert, weder wesenlos noch leblos, weder sprachlos noch vernunftlos ist. Sie ist auch kein Körper, besitzt weder Gestalt noch Form, weder Qualität noch Quantität noch Gewicht. Sie ist nicht auf einen Ort beschränkt; weder Auge noch Tastsinn erreicht sie. Sie wird (tatsächlich) weder sinnlich wahrgenommen, noch ist sie (überhaupt) sinnlich wahrnehmbar. Sie erleidet auch weder Unordnung noch Verwirrung, belastet mit aufs Materielle gerichteten Leidenschaften. Sie ist weder machtlos, weil mit Merkmalen behaftet, die dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung angehören, noch ermangelt sie des Lichtes. Auch keine Veränderung und kein Zerfall, keine Teilung und kein Verlust, kein Zerfließen oder was sonst noch aus dem Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren genannt werden mag, ist ihr gleichzusetzen oder zuzuschreiben.“ (S. 461)

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