Kapitel 3
Religiöse Erfahrung (James, Rosset)

Vor über 100 Jahren erschien von William James Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, ein Buch das so frisch und unantiquiert klingt, als sei es in allerletzter Zeit geschrieben. Es wird auch von kaum jemanden übergangen, der sich seit dem mit Religion beschäftigt, insbesondere mit „persönlicher Religion“. James beschränkt sich auf diese persönliche Religion als das Ursprünglichere gegenüber dem institutionellen Bereich der Religion. Von Kirche und auch systematischer Theologie sieht er in diesem Buch ganz ab.

James schreibt: „Hat sich eine Kirche erst einmal etabliert, so lebt sie aus zweiter Hand auf dem Boden ihrer Überlieferung; alle Gründer einer Kirche jedoch verdanken ihre Kraft ursprünglich der direkten persönlichen Gemeinschaft mit dem Göttlichen.“ (S. 63) Und genau Letzteres soll hier Religion bedeuten: Gefühle, Handlungen und Erfahrungen einzelner Menschen, die von sich selbst glauben, dabei in Beziehung zum Göttlichen zu stehen.

James bietet uns in seinem Buch eine beschreibende Übersicht über all diese religiösen Erfahrungen und Neigungen der Menschen, und zwar auf der Grundlage ihrer religiösen Schriften und Autobiographien. Auf eigene Erfahrungen greift James nicht ausdrücklich zurück. Er hat sie, bis auf ein (bereits in Kap. 0 erwähntes) rudimentäres mystisches Gefühl (vgl. S. 382), auch gar nicht gemacht. Was er aber eher für ein Defizit ansieht, glaubt er doch, dass den religiös Begabten ein „MEHR“ zuteil würde durch „Vereinigung mit einer Macht jenseits unserer selbst.“ (S. 491)

Die religiösen Erfahrungen haben seiner Meinung nach einen „unbestreitbar großen biologischen Wert“ (S. 488): „Die Religion (macht) leicht und glücklich, was ohnehin notwendig ist“ – letztlich die Selbstaufgabe, der Tod. „Es ist ... die rein biologische Perspektive, die uns ... zu diesem Schluss führt“ - von der Wahrheit einer metaphysischen Offenbarung dabei ganz abgesehen. (S. 84)

Die menschliche Erfahrung scheint weiter zu reichen als die normale sinnliche Erfahrung (S. 57), wie denn auch unser Bewußsein sich ins Unterbewusste fortsetzt. In der religiösen Erfahrung scheint das „endliche Selbst“ mit dem „absoluten Selbst“ zu verschmelzen. Solche Erfahrungen sind in gewissem Sinne paranormal oder psychopathisch. Religiöse Melancholie, Glücksekstase, mystische Trance – alles „Spezialfälle einer menschlichen Erfahrung, die sehr viel weiter recht. (S. 57) Warum sollten die wertvollsten menschlichen Erfahrungen nicht psychopathischen Ursprungs sein? „Vorausgesetzt, es gibt so etwas wie Inspiration aus einem höheren Reich, dann ist es sehr wohl möglich, dass das neurotische Temperament die dazu erforderliche Empfänglichkeit und damit die Grundbedingung erfüllt.“ (S. 58)

Über den spirituellen Wert von Gedanken, Gefühlen oder wissenschaftlichen Lehren sagen organische Verursachungen nichts. Physiologische Veränderungen spielen sich schließlich immer ab, begleiten alle Geisteszustände. Bestimmte Geisteszustände sind anderen nicht auf Grund physiologischer Begleitvorgänge überlegen, sondern „weil wir ein unmittelbares Gefallen an ihnen finden: oder weil wir überzeugt sind, dass sie positive Auswirkungen auf unser Leben haben.“ (S. 489 Und das dürfte bei religiösen ´Spezialerfahrungen´ durchaus der Fall sein. Damit hat James (im ersten, „Religion und Neurologie“ überschriebenen Kapitel seines Buches) „das Schreckgespenst des krankhaften Ursprungs (unserer) religiösen Gefühle“ verscheucht.

Die religiöse Verzauberung, das vollkommene Glück, diese zusätzliche Gefühlsdimension, um die ist es zu tun, die begrüßen wir, komme sie nun als Geschenk des Organismus durch Hormone und Botenstoffe, oder als Geschenk Gottes durch Gnadenfluss und Engel: Die Verzauberung, so James, „erleben wir entweder oder wir erleben sie nicht.“

Wenden wir uns nun den Inhalten der religiösen Erfahrung zu, oder ihren Objekten. Es sind vor allem solche, die man nicht sehen kann, für die es keine normale sinnliche Erfahrung gibt, weil es reine Vorstellungen sind oder abstrakte Objekte. Z.B. die Eigenschaften Gottes wie Gnade, Gerechtigkeit, Allwissenheit, Heiligkeit. Typisch für das religiöse Leben ist, von solch unsichtbaren, weil abstrakten Objekten als Realität überzeugt zu sein, indem sich mit dem Glaubensgegenstand eben ein starkes Realitätsempfinden verbindet. Wie ist das möglich?

Bei Kant, so erwähnt James, gab es immerhin die Ideen der reinen Vernunft, die solche Realität hatten. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit sind bei Kant solche eigentlich unerkennbaren Objekte, die dennoch als reale geglaubt werden. Diese unerkennbaren Realitäten machen sogar, wie Kant im 1. Satz der Kritik der reinen Vernunft (Vorrede A) erklärt, das „Schicksal der menschlichen Vernunft“ aus. James schreibt darüber: Sie haben „eine fest umrissene Bedeutung für unser Handeln. Wir können handeln, als ob es einen Gott gäbe; fühlen, als ob wir frei wären; die Natur betrachten, als ob sie von besonderen Zwecken erfüllt wäre; planen, als ob wir unsterblich wären; und dann stellen wir fest, dass diese Worte unser sittliches Leben wahrhaft verändern. Unser Glaube, dass diese unerkennbaren Objekte wirklich existieren, erweist sich unter dem Gesichtspunkt unseres Handelns oder, wie Kant es nennt, in praktischer Hinsicht als vollkommen ebenbürtig mit einer Erkenntnis dessen, was sie sind, gesetzt den Fall, es wäre uns gestattet, sie zweifelsfrei zu erfassen.“ (S. 86 f)

Und hat nicht schon Platon die allgemeinen Ideen für realer halten können als die von ihnen abkünftigen sinnlichen Objekte, womöglich auf Grund einer spezifischen Ideenerfahrung oder intellektuellen Anschauung? „Jedes Ding ist das, was es ist, durch Teilnahme an der Natur dieser Abstraktionen. Niemals können wir ihrer direkt ansichtig werden, denn sie haben keinen Körper, keinen Umriss und keine Füße, aber wir erfassen alle anderen Dinge durch ihre Vermittlung“, kommentiert James. (S. 88)

Die Religion ist vornehmlich mit solchen ideellen oder abstrakten Gegenständen beschäftigt – insbesondere mit Gott. Die Realitätserfahrung des Göttlichen (das auch die buddhistische Erleuchtung einschließen könnte) steht im Mittelpunkt der Religion. Bedient sie sich bei ihrer Realitätserfahrung eines besonderen Hirnmoduls, des sog. Gottmoduls im linken Schläfenlappen (siehe oben Kap.2)? - James schrieb (100 Jahre vorher): „Es wäre eine hübsche Aufgabe für die Psychologen, den organischen Sitz eines solchen Empfindens herauszufinden.“ Nun, anscheinend wäre diese Aufgabe mit der Entdeckung des Gottmoduls gelöst.

James resümiert: „Es ist, als gäbe es im menschlichen Bewusstsein ein Empfinden von Realität, ein Gefühl von objektiver Gegenwart, von ´da ist etwas´- eine Wahrnehmung, die tiefer und allgemeiner reicht als irgendeiner der besonderen ´Sinne´, denen die gängige Psychologie das ursprüngliche Entdecken realer Existenz zuspricht. Ist dies aber so, dann dürfen wir annehmen, dass die Sinne unsere Einstellungen und unsere Verhaltensweisen normalerweise dadurch prägen, dass sie zuerst unser Realitätsempfinden erregen; und alles andere, beispielsweise eine Idee, die dieses Empfinden in ähnlicher Weise erregt, hätte dasselbe Privileg, das normalerweise die Sinnesobjekte besitzen, nämlich real zu erscheinen. Insofern religiöse Vorstellungen in der Lage sind, an dieses Realitätsempfinden zu rühren, müsste man trotz aller Bedenken an sie glauben, selbst wenn sie so vage und unerreichbar wären, dass man sich fast nichts unter ihnen vorstellen kann; selbst wenn sie, was ihre Was-Sein angeht, Nicht-Seiendes wären, wie die Gegenstände von Kants Moraltheologie.“ (S. 89 f)

Einen Beweis für die Existenz eines undifferenzierten Realitätsempfindens liefern Halluzinationserlebnisse, insbesondere bei unvollständigen Halluzinationen. Da gibt es das Bewusstsein einer Gegenwart von irgend etwas, verbunden mit einer fürchterlich unangenehmen Empfindung, wie ein Betroffener berichtet. „Ich wusste um seine Gegenwart weit gewisser, als ich jemals um die Gegenwart einer im Fleische lebenden Kreatur gewusst habe.“ (S. 91) In der religiösen Erfahrung, z.B. bei plötzlicher Bekehrung, ist es die Erfahrung der Gegenwart des ansonsten unsichtbaren Gottes. „Er war für keinen meiner Sinne empfänglich“, schreibt ein anderer Betroffener, dennoch nahm mein Bewusstsein ihn wahr.“ (S. 100)

James meint angesichts plötzlicher Bekehrungen durch Realitätserfahrung Gottes, „dass manche Menschen ein angeborenes Empfinden für die Gegenwart Gottes haben müssen.“ (S. 101) Damit haben sie anscheinend auch eine besondere Fähigkeit, sich glücklich zu fühlen. Denn, so schreibt einer, er es erfahren hat: Das Kennzeichen für die unbestreitbare Existenz und Nähe Gottes ist „das ganz und gar unvergleichliche Gefühl des Glücks, das mit der Nähe verbunden ist und das darum nicht nur ein mögliches und in jeder Hinsicht angemessenes Gefühl für uns hier auf Erden ist, sondern der beste und ganz unverzichtbare Beweis für Gottes Realität. Kein anderer Beweis ist gleichermaßen überzeugend, und darum ist das Glück der Punkt, von dem jede wirksame Theologie ihren Ausgang nehmen sollte.“ (S. 111)

Das spezifisch religiöse Gefühl kann auch die temperamentsbedingte Schwermut (an der James litt) überwinden. Es ist ein „krafterzeugendes“ Gefühl, „das dem Betroffenen Beständigkeit verleiht und den einfachen Gegenständen des Lebens etwas Schmackhaftes, Bedeutungsvolles, Begeisterndes und Herrliches“, schreibt James am Ende seiner Durchsicht der vielfältigen religiösen Erfahrungen, von denen seine Gewährsleute berichteten. (S. 485) Weiter heißt es: „Es handelt sich dabei sowohl um einen biologischen wie einen psychologischen Zustand. Tolstoj ist absolut genau, wenn es dies glaubende Vertrauen zu den Kräften zählt, von denen Menschen leben. Sein völliges Fehlen, Anhedonie, kommt einem Zusammenbruch gleich.“ (S. 485)

Im Glaubenszustand kann der Verstand auf eine äußerstes Minimum reduziert sein, z.B. bei einem Anfall mystischer Ergriffenheit. „Wenn mit einem Glaubenszustand jedoch ein positiver intellektueller Gehalt verbunden ist, wird dieser unserem Glauben unauslöschlich eingeprägt; und dies erklärt die überall anzutreffende leidenschaftliche Loyalität religiöser Menschen gegenüber den kleinsten Details ihrer oft grundverschiedenen Glaubensbekenntnisse.

Wenn wir die Bekenntnisse und den Vertrauenszustand zusammen als das Formende der ´Religionen´ betrachten und diese als rein subjektive Phänomene behandeln, ohne Rücksicht auf die Frage nach ihrer ´Wahrheit´, sind wir verpflichtet, sie wegen ihres außerordentlichen Einflusses auf das Handeln und die Leidensfähigkeit zu den wichtigsten biologischen Funktionen der Menschheit zu rechnen. Ihre stimulierende und betäubende Wirkung ist so groß, dass Prof. Leuba (in seinem Artikel über den Inhalt des religiösen Bewusstseins im The Monist, XI, Juli 1901, S.536) sogar behauptet; dass die Menschen, solange sie ihren Gott gebrauchen können, sich wenig darum kümmern, wer er ist, und ob er überhaupt ist.“ (S. 486) Leuba schreibt: „Man kann diese Sache auf die Formel bringen: Gott wird nicht erkannt, er wird nicht verstanden: er wird gebraucht – mal als Fleischlieferant, mal als moralische Unterstützung, mal als Freund, mal als Liebesobjekt.“

„In dieser rein subjektiven Sichtweise“, meint James, „muß die Religion daher in gewisser Weise als unangreifbar betrachtet werden.“ Darüber schreibt nun Clément Rosset (in Das Prinzip Grausamkeit, S.110): „Letztendlich ist es aussichtslos, sich mit ihm (dem Gläubigen) zu messen, indem man der unerschütterlichen Gewissheit des Glaubens die in diesem Fall lächerlichen Kräfte des kritischen Gedankens entgegensetzt.“ Rosset erläutert die Unlösbarkeit des Problems, „den Glauben an einer Schwachstelle zu packen“, durch Überzeichnung des Mechanismus des Glaubens. Es sei der Bindungsmodus zwischen Subjekt und Glaubensobjekt, auf den es ankommt. An ihm müsste die Kritik bzw. Widerlegungsversuche ansetzen, und nicht an den beiden Polen Subjekt und Objekt. Es sei nämlich ziemlich gleichgültig, wer oder was das ist, das glaubt und das geglaubt wird. Ja, letztlich gibt es Glauben „nur unter der Bedingung ..., dass es nichts gibt, woran geglaubt wird, und niemanden, der glaubt.“ Denn jeder Glaubensgegenstand in seiner Besonderheit ist eine Gefahr für den Glauben, so wie auch jedes Glaubenssubjekt mit seinen Stimmungsumbrüchen. Gott, an den man glaubt, beruht auf der Eliminierung aller anderen Dinge, so dass der Glaubensinhalt ruhig variieren kann. Ebenso kann das Subjekt variieren.

Rosset: „Der Glaube geht somit mit einer magischen Beseitigung der Idee der Veränderung einher.“ „Die Wirkungsweise des Glaubens ist unvereinbar mit der Anerkennung von Veränderung: deswegen wird der, der ich war, als ich den Glauben nicht hatte, von mir nicht als der anerkannt, der ich war, bevor ich mich verändert hatte, sondern als nichts und niemand; - deswegen wird der, der den Glauben nicht mehr hat, vom Gläubigen nicht als ehemaligen Glaubensbruder anerkannt, der sich anders besonnen hat, sondern als ewiger Ungläubiger.“ (S. 121)

Also kommt es nur auf den Glaubenakt selbst an. Sowohl Subjekt wie Glaubensobjekt sind jeder Diskussionsmöglichkeit entzogen, denn sie existieren eigentlich gar nicht. Insbesondere ist ein Widerspruch in dem, was man glaubt und geglaubt hat, für den Glauben kein Hindernis. „Dieses undiskutierbare Nichts definiert seit jeher den theologischen Gegenstand, der a priori und völlig zurecht von jeder Überprüfung und jeder Kritik ausgenommen ist. So kann man denn auch nicht von einer Scheidung zwischen Glauben und Vernunft sprechen, da ein nicht seiender Glaubensgegenstand a fortiori (d.h. erst recht nicht) einer vernunftgemäßen Überprüfung zugänglich ist. Niemals wird ein Räsonneur einen Gläubigen nutzbringend kritisieren.“ Offenbar ist es nämlich „nur möglich, an das zu glauben, was man nicht versteht, und es ist vollkommen unmöglich, an das zu glauben, das man versteht.“ (S. 122 f)

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