Zu Bernulf Kanitscheider, Auf der Suche nach dem Sinn (Insel Tb 1748, Ffm 1995, S. 80 – 86: „Illusionen“; vgl. auch B. Kanitscheider, Im Innern der Natur, Philosophie und moderne Physik. Wiss. Buchges. Darmstadt 1996)
Der Tod ist irreversibel, Lebenszeit und Zeitdauer der natürlichen Umgebung stehen in einem Missverhältnis. Unsere kurze Anwesenheit in der Welt hinterlässt nur minimale Spuren und wird von Nachfahren alsbald vergessen. Solche Erfahrungen haben kompensatorische Ausgleichsentwürfe in Gang gesetzt: religiöse und metaphysische Sinnmodelle. Metaphysisches Sinnverlangen und rationales Wissen kontrastieren, gehen nicht zusammen. Miguel de Unamuno (geb. 1864 in Bilbao, Rektor der Univ. Salamanca) schreibt in seinem Buch von 1913 Del Sentimento trágico de la Vida (Das tragische Lebensgefühl, München 1925, S. 21): „Die tragischste unter allen Aufgaben der Philosophie ist jene, die Notwendigkeiten des Denkens mit den Notwendigkeiten des Herzens und des Wollens zu vereinigen. Hieran scheitert jedes System, das den ewigen, tragischen Widerspruch, den tiefen Grund unseres Daseins zu überbrücken versucht.“ Unamuno zitiert Étienne Pivert de Senancour aus dessen Buch Oberman(n):»L´homme est périssable il se peut, mais périssons, en résistant, et si le néant nous est réservé, ne faison pas qui ce soit une justice.» („Der Mensch ist sterblich. Das mag sein, doch wollen wir beim Untergang Widerstand leisten. Erwartet uns das Nichts, so wollen wir doch nicht tun als ob uns Gerechtigkeit widerführe.“ Oder, im zweiten Satz anders übersetzt: „Und ist das Nichts unser Los, so wollen wir also handeln, dass es zur Ungerechtigkeit an uns wird.“)
Leo Schestow stellt den Widerspruch von Vernunft und Herzenswunsch als den von Wissen und Glauben dar, repräsentiert durch Athen und Jerusalem in seinem Buch Athen und Jerusalem, Versuch einer religiösen Philosophie. Graz 1938. Er opfert die Vernunft dem Glauben. (Vgl. meine Schrift Rasende Reden. Schestows radikale Vernunftkritik. Salon-Verlag, Köln 1999) Die Philosophie des tausendjährigen Mittelalters ist durchweg bestimmt von dem Widerspruch und dem Harmonisierungsversuch von Glauben und Wissen. (Vgl. mein Buch Philosophie, DuMont Schnellkurs, Köln 2001, S. 58 ff)
Kanitscheider: „Im Antagonismus von wissenschaftlicher Rationalität und metaphysischer Wunschvorstellung sind viele Menschen dazu geführt worden, den wissenschaftsinhärenten Naturalismus zu überschreiten.“ Geht es um Religion, d.h. um die Befriedigung emotionaler Wünsche, zeigt sich, wie sehr Intelligenz im Dienste des Gefühlslebens steht. Freud schreibt (in Die Zukunft einer Illusion, Stud. Ausgabe bei Fischer, Bd.IX, S.166): „Kein vernünftige Mensch wird sich in anderen Dingen so leichtsinnig benehmen und sich mit so armseligen Begründungen seiner Urteile, seiner Parteinahme, zufrieden geben, nur in den höchsten und heiligsten Dingen gestattet er sich das. ... Wenn es sich um Fragen der Religion handelt, machen sich die Menschen aller möglichen Unaufrichtigkeiten und intellektuellen Unarten schuldig.“ Gerade auch die Philosophen! Sie versuchten, für religiöse Probleme einen erkenntnistheoretischen Ausnahmefall zu konstruieren. Die Suche nach der Wahrheit wird einem hermeneutischen Pragmatismus geopfert, der den Nutzen des religiösen Glaubens an die erste Stelle setzt.
Und die Heilstechnologen ihrerseits, die Kirchenleute und Gläubigen, sie können natürlich die Annahme der absoluten Sicherheit ihres Fundamentes nicht zugunsten eines methodologischen Revisionismus preisgeben.
Zur Stabilisierung der religiösen Illusion hat sicher die Suggestion beigetragen, dass das Leben ohne Transzendenz (absolute Werteskala, tragenden Grund der Welt oder Teilhard de Chardins Punkt Omega) das Leben unerträglich sein muss. Aber ohne Transzendenz geht’s auch in der Religion: siehe Buddhismus. Und ohne Transzendenz und Religion kommen die Stoiker und Epikureer zu einem „erfüllten Leben“. (Vgl. Michel Foucault Sexualität und Wahrheit 2und 3: Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich, stw 717 und 718. Dazu Wilhelm Schmid Die Geburt der Philosophie im Garten der Lüste. Michel Foucaults Archäologie des platonischen Eros, Philosophie Fischer 12509)
Kanitscheider S.80: „Es sieht fast so aus, als ob die menschliche Naturanlage eine Prädisposition zur Metaphysik umgreift, welche ihn immer wieder veranlasst, in Richtung auf Transzendenz auszugreifen, auch wenn die rationale Reflexion wenig gute Gründe dafür zu Tage fördert. Biologen vermuten sogar eine genetische Disposition für die Bereitschaft, sich indoktrinieren zu lassen, d.h. Sätze für wahr zu halten, für die kein positives Argument spricht. Sie meinen, dass es sich um eine neurologisch begründete Lernbereitschaft handelt, die sich durch Auslese von miteinander konkurrierenden Stämmen entwickelte.“ Schlechte Aussichten für die Aufklärung! Und vielleicht eine Erklärung dafür, dass eine so große Zahl von Menschen esoterischen Ideologien anhängt.
Vgl. Julian Jaynes mit seiner Hypothese der bikameralen Psyche (weitgehende Hirnhälftentrennung, Halluzinierung der Stimme Gottes) bis zur sog. Achsenzeit um 600 v.u.Z. in Der Ursprung des Bewusstseins. Relikte der bikameralen Psyche heute in Schizophrenie, Mystik, Esoterik. Vor allem: Die Sehnsucht nach der verlorenen Stimme Gottes!
Erinnert sei an Beckers These: Externalisierung der Individualität in der Religionen (Mythen, Kulten) als Evolutionsvorteil der Großgruppen.
Verwiesen sei auf E.O. Wilson: ´Religion – Eine List der Gene.´ In: E. Dahl (Hg.): Die Lehre des Unheils, Hamburg: Carlsen 1993, S.84-107. Hier möchte ich mit der Vorlesung im WS 2002/3 Philosophie der Religion weitermachen.