Der evolutionäre Erfolg der Menschheit (auch im Sinn der Herrschaft über andere Arten) liegt an der Fähigkeit zur Großgruppenbildung. Bei Kleingruppen bis zu 150 Mitgliedern (Clan-Gesellschaft, Brüderhöfe der Hutterer in USA) sind die Sozialbeziehungen überschaubar (gehirnmäßig!). Bei Verbänden von über 500 Personen müssen soziale Bindekräfte mobilisiert werden: durch mythisch-religiöse Kulte (S.63) in Reaktion auf das existentielle Dilemma des Wissens um den Tod.
Die Selbstbetroffenheit vom Todesschicksal, das Todesbewusstsein kommt nicht aus der Kleingruppe, nicht aus dem Nahbereich. Es stammt aus dem Umgang mit Fremden, aus einem durch Anonymität bedingten Bewusstsein menschlicher Gleichheit. (Kinder empfinden den Tod naher Angehöriger als Trennung und Verlassen, verstehen ihn aber nicht als Ende des Lebens.) Geister und Götter repräsentieren die innere Fremdheit, die Fremdheit in der Gruppe. Ein kollektives Bewusstsein wird zum Träger des für alle geltenden Existentiellen Dilemmas. In ihm lässt sich der Unsterblichkeitswunsch unterbringen. Die Großgruppe besitzt für den Einzelnen eine quasi-ewige Dauer.
Das Todeswissen ist sicher mitverantwortlich für den evolutionären Erfolg der Menschheit durch Großgruppenbildung. Es setzte im Einzelnen die nötige Emotionalität frei, die das Gegengewicht bildete gegen jedwede die Großgruppe bedrohende Anonymität (S.64). Einerseits wurde in der Großgruppe die innere Fremdheit in Kauf genommen und durch Götterpräsenz bewältigt. Andererseits erneuerte die dauernde Präsenz des fremden Anderen die Erinnerung an den Ursprung des Todeswissens in der Begegnung mit dem fremden Anderen. ,,Mit der rituellen Tötung von Menschen, die man als fremde Andere wahrnahm, sollte die eigene inner Fremdheit ... ausgelöscht werden.“ (S.65) Kannibalismus transportiert Tod in Leben, ist Kommunikation mit den Göttern (wie im eucharistischen Essen von Fleisch und Blut Christi. (Vgl. meine Ausführungen dazu in Die grausame Wahrheit der Bibel, S.154 ´Der Menschenfresserkomplex´.)
Angesagt ist heute die innerweltliche Sinngebung des Lebens:
Sinnvolle Tätigkeit im Privaten, sinnvermittelnde Arbeit, sinnvolle Gestaltung von Freizeit. Die Ideologie der Demokratie (als öffentlichkeitswirksame Suggestion) ist die gegensteuernde Reaktion auf die Intuition der Bedeutungslosigkeit des Einzelnen, als Effekt der großen Zahl. Das Gleichheitsbewusstsein wird vom Todeswissen abgespalten. Was eine gewisse Dilemmaentlastung bedeutet. Illusionär, aber womöglich gesellschaftlich umso wirksamer sind die extremen Abspaltungen: z.B. Mitgliedschaft in heroischen Kollektivsubjekten (Nationalsozialismus, Marxismus).
Die modernen Medien (Videospiele, insbesondere die mit Horrorszenarien) bieten heute eine individuenbezogene Befriedigung superlativistischer Ansprüche von Individualität. Enttäuschungserfahrungen mit den Phänomen individualistischer Knappheit werden womöglich so verarbeitet. „Wir sollten aus den extremen Potentialen des Cyberspace lernen, in ihnen modernste Ausgestaltungen der Theatralik menschlicher Individualität zu sehen.“ (S. 314)
Kritisches Durchschauen der Abspaltung und Theatralik der Individualität dient der Begrenzung und Beschränkung superlativistischer Ansprüche der Individualität, damit die Entlastung vom existentiellen Dilemma der Einzelnen durch Gleichheitsidentifikation wahrnehmbar bleibt. In der modernen Gesellschaft kann man möglichst lange im Bewusstsein objektivierender Distanzierung des eigenen Todes durch Gleichheitsidentifikation existieren, um sich im Wettbewerb um individualistische Anerkennung zu bewähren. Bei tödlicher Krankheit und Altersbeschwerden steht es aber schlecht um die Möglichkeit, die existentielle Verzweiflung zu mildern. „Zu diesen Möglichkeiten gehört an erster Stelle eine gesellschaftliche Perspektive des ´leichten Sterbens´.“ (S.315)
Wir fangen noch einmal ganz von vorne an: bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung durch Zellteilung und der geschlechtlichen durch Vereinigung von Samenzelle und Eizelle. Bataille sieht in der Fortpflanzung nämlich den Schlüssel zur Erotik (S.11). Und diese bestimmt unser Leben.
Erotik, was ist das? Die Zustimmung zum Leben bis in den Tod hinein! (S.10) Oder: ein vom natürlichen Zweck der Fortpflanzung und Brutpflege unabhängiges psychisches Streben, „die Sehnsucht nach der verlorenen Kontinuität“ (S.14). Denn das existentielle Dilemma oder „die Situation, die uns an eine Zufalls-Individualität, an unsere vergängliche Individualität fesselt, ertragen wir nur schlecht. Zur gleichen Zeit, da wir das geängstigte Verlangen nach der Dauer dieses Vergänglichen hegen, sind wir von dem Gedanken an eine ursprüngliche Kontinuität besessen, die uns allgemein mit dem Sein verbindet.“ (S.14)
Individualität ist Diskontinuität (Vereinzelung, Ichbezogenheit). Kontinuität ist das Sein. Wir berühren es in der Erotik – und im Tod.
Den Übergang von Kontinuität in Diskontinuität und umgekehrt von dieser in jene kennzeichnet die ungeschlechtliche und die geschlechtliche Fortpflanzung. „Die Fortpflanzung führt zur Diskontinuität der Wesen, aber sie bietet ihre Kontinuität auf, d.h., sie ist innig mit dem Tod verbunden.“ Vorherrschendes Zeichen der Erotik ist die Faszination der Identität von Kontinuität der Wesen und dem Tod. (S.12) Eine elementar Störung, eine Umwälzung, ein Versinken ist die Erotik. Schlüssel dazu, wie gesagt, die Fortpflanzung.
Bei der geschlechtlosen Fortpflanzung bildet eine Zelle wenn ein bestimmter Grad des Wachstums erreicht ist, zwei Kerne aus. Aus einem Wesen entstehen zwei. Aus a entstehen a´ und a´´. Sieht man das als Klonierung und Abspaltung an, kann man von prinzipieller Unsterblichkeit des a reden: es überlebt in der identischen Kopie, wobei kein Generationsunterschied besteht. Mutter- und Tochterzelle sind nicht zu unterscheiden bzw. überhaupt auszumachen. Bataille sieht das anders: a´ und a´´ sind beide nicht das a. Das a ist verschwunden, gestorben, ohne eine Leiche zu hinterlassen. Aber eben weg. An seine Stelle treten a´ und a´´. „Es hört insofern auf zu sein, insofern es diskontinuierlich war. An einem Punkt der Fortpflanzung hat es allerdings Kontinuität gegeben: da, wo das Eine übergeht in Zwei. Sobald es zwei gibt, ist die Diskontinuität jedes der beiden Wesen wiederhergestellt. Aber der Übergang schließt zwischen den beiden einen Augenblick von Kontinuität ein. Das erste stirbt, aber in seinem Tod tritt der wichtige Augenblick der Kontinuität zweier Wesen ein.“ (S.13)
Eine neue Art Übergang von der Diskontinuität zur Kontinuität gibt es bei der geschlechtlichen Fortpflanzung, der Verschmelzung von Spermatozoon und Eizelle. Es entsteht Kontinuität zwischen ihnen, um ein neues Wesen bilden mit dem Tod, dem Verschwinden der beiden getrennten Wesen Spermatozoon und Eizelle. „Das neue Wesen ist selbst diskontinuierlich, aber es trägt in sich den Übergang zur Kontinuität, die für jedes der beiden tödliche Verschmelzung zweier verschiedener Wesen.“ (S.13)
Diese Verwandlungen sind die Grundlage aller Lebensvorgänge. Bedenken wir, dass wir seelisch Einzeller geblieben sind (vgl. Wolfg. Treher, Zellularpathologie der Seele, Emmendingen 1987, S.43: „Ausgehend von der Gleichung Leben = Seele will ich zu zeigen versuchen, dass die Seele die Evolution nicht mitmacht und dass sich mit ihr der Satz von der Ungewordenheit des Lebens belegen lässt, weil sie bleibt, was das Leben im vor-evolutionären Ursprung war: auch sie, die Seele, ist eine einfache Zelle“.), und stellen uns die Verdopplung unserer Person vor, die wir nicht überleben können, weil die aus uns hervorgegangenen Doppelgänger von uns verschieden wären. Um zu sein wie ich, müsste ich mit dem Doppelgänger in Kontinuität stehen. – Die Verschmelzung meiner mit Meinesgleichen dagegen ist weniger schwierig vorzustellen: beide verschwinden.
Grundlegend sind die Übergänge vom Diskontinuierlichen zum Kontinuierlichen und umgekehrt. „Wir sind diskontinuierliche Wesen, Individuen, die getrennt voneinander in einem unbegreiflichen Abenteuer sterben, aber wir haben Sehnsucht nach der verlorenen Kontinuität.
Was die Menschen von Tieren unterscheidet ist, nach Bataille, die Arbeit und die für sie nötigen Verbote (Triebzügelungen). Die Verbote (beim Frühmenschen) bezogen sich ganz bestimmt wesentlich auf das Verhalten den Toten gegenüber. Der Mensch löste sich aus der Animalität, „weil er arbeitete, weil er begriff, dass er sterblich war, und weil er von einer Sexualität ohne Scham zu einer schamhaften Sexualität überging“. (S.27) „Meistens ist die Arbeit eine Sache der Gemeinschaft; und die Gemeinschaft muß sich in der für die Arbeit reservierten Zeit jenen exzessiven, ansteckenden Affekten widersetzen, in denen nur noch unmittelbare Hingabe an die Maßlosigkeit herrscht.“ Die Verbote richten sich hauptsächlich gegen die Gewalttätigkeit, d.h. zugleich auf die geschlechtliche Fortpflanzung (der Trieb der Liebe scheint - bis zum äußersten gesteigert – ein Todestrieb zu sein). (S.38)
Zum Verbot gehört die Übertretung, nicht als einfache Negation des Verbots. Vielmehr geht sie über das Verbot hinaus, vervollständigt es. (S.59) „Die Übertretung geht über eine profane Welt, deren Ergänzung sie ist, hinaus, ohne sie zu zerstören. Die menschliche Gesellschaft besteht nicht nur aus der Arbeitswelt. Sie setzt sich gleichzeitig- oder nach einander – aus der profanen Welt und aus der heiligen Welt zusammen, die ihre komplementären Formen sind. Die profane Welt ist die der Verbote. Die heilige Welt steht begrenzten Übertretungen offen. Sie ist die Welt des Festes, der Herrscher und der Götter., (S. 63) anders gesagt: die Welt der Verschwendung, der Verausgabung oder der Souveränität. (Vgl. G. Bataille Das theoretische Werk. In zehn Bänden. Bd. 1: Die Aufhebung der Ökonomie. Der Begriff der Verausgabung, München 1974) „Es liegt im Wesen des Menschen, die Gewaltsamkeit der natürlichen Triebregelungen zurückzudrängen: aber dieser Wiederstand bedeutet keinen Bruch, er verrät im Gegenteil ein tieferes Einverständnis.“ (S.65)
Vgl. Thomas Mann: Über mich selbst. Autobiographische Schriften. Ffm 2002. Dort Brief an einen Verleger (der ihm Verlaines Gedichte geschickt hatte, von denen Thomas Mann tief erschüttert war). Er schrieb an den Verleger: „Dies <tiefe Erschütterung> nämlich ist die Wirkung, die Unzucht und Wollust, wenn ihr Tiefen sich auftun, auf mich auszuüben pflegen. ... Was eigentlich das Sittliche sei – Reinheit und Selbstbewahrung oder Hingabe, d.h.: Hingabe an die Sünde, an das Schädliche, an das Verzehrende – , ist ein Problem, das mich früh beschäftigte.“
Batailles Erotik der Hingabe und Verausgabung ist Philosophie, wenn diese nämlich, nach Platon, eine Einübung ins Sterben oder Vorbereitung auf den Tod (thanatos melete, Phaidon 81 A) ist und sich vollendet in der ekstatischen Erotik, die Platon als Zeugen im Schönen und Unsterblichen beschreibt: Erst dann wird das Leben sinnvoll, „lebenswert“, verkündet er (siehe Symposion, Rede der Diotima, 211 d).
Batailles Erotik ist Zustimmung zum Leben bis in den Tod hinein gemäß dem Satz Marquis de Sades: „Es gibt kein besseres Mittel, sich mit dem Tod vertraut zu machen, als ihn mit der Vorstellung einer Ausschweifung zu verbinden.“ (S.10) Er nennt seine Erotik ´heilig´. Denn „das Heilige ist eben die Kontinuität des Seins, denen geoffenbart, die ihre Aufmerksamkeit in einem feierlichen Ritual auf den Tod eines diskontinuierlichen Wesens richten.“ (S.21, gemeint ist das religiöse Menschenopfer.)
Das Leben mag sterblich sein, die Kontinuität des Seins (außerhalb unser) ist es nicht. „Zunächst gewährt uns die unmittelbare erotische Verwirrung ein Gefühl, das alles übersteigt, so dass die düsteren Aussichten, die mit der Situation des diskontinuierlichen Wesens verbunden sind, in Vergessenheit geraten. Dann wird uns über den der Jugend gegebenen Rausch hinweg Macht zuteil, dem Tod ins Auge zu sehen und ihn schließlich als das Vorspiel zu jener unbegreiflichen erkennbaren Kontinuität zu betrachten, die das Geheimnis der Erotik ist und deren Geheimnis nur die Erotik nahe bringt.“ (S.23)