Älteste Zeugnisse sind menschliche Grabstätten. Sofern sie auf Bestattungsriten schließen lassen, ist dies ein Hinweis darauf, dass der Tod mehr als nur eine materielle Rolle gespielt hat. Allerdings: Im Hinduismus findet sich ein Beleg für einen Ritus ohne nachweisliche Bestattung. Also mag das Todeswissen auch älter sein als die ältesten Grabstätten. Bestattungen bei Affen sind nicht bekannt. Ein Mitgefühl für leidende und insofern auch sterbende Artgenossen (insbes. eigener Kinder) haben sie wohl. Verstorbene versuchen sie durch Schütteln zu ´wecken´. Nach einiger Zeit aber lassen sie davon ab und lassen die Leiche liegen.
Annm.: Wenn sie sie nicht durch Verstecken, Begraben o.Ä. vorm Gefressenwerden - etwa durch Hyänen - behüten, wissen sie dann nicht, dass es sich um einen Toten handelt, der vorm Getötetwerden nicht mehr geschützt zu werden braucht? – Könnte dann nicht auch das Beerdigen als Schützen eines noch irgendwie Lebendigen angesehen werden? Vgl. Elefanten, die die Leiche mit Zweigen bedecken, vielleicht als Schutz gegen Sonne bzw. Austrocknung. – Setzt solches Nicht(an)erkennen des Todes, der dann bloß eine Art Krankheit ist, denn notwendig Todesbewusstsein voraus? – Überlebensvorstellungen statt Unsterblichkeitsvorstellungen!
Tiere scheinen kein ausgeprägten Bewusstsein für Zukünftiges zu haben. Menschliche Kinder gelangen erst zwischen dem 4. und 6. Lebensjahr zu einem bewussten Zeiterleben. (Vgl. Piaget: Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde, Ffm 1979) Der Mensch vermochte irgendwann, seine Existenz imaginativ in die Zukunft verlängern. „Irgendwann ... muss es dann zum Bewusstsein vom je eigenen Tod gekommen sein.“ (Becker 20) Vielleicht ist es verstetigte Todesfurcht, statt punktueller Todesangst.
Bestattungen können darauf hinweisen, dass die Menschen sich dadurch des Weiterlebens der Toten versicherten – im Sinne einer Wunschvorstellung. Die Vorstellung einer Existenz nach dem Tod führt, wie Soziobiologen sagen, zu einer optimistischen Lebenseinstellung, und die könnte evolutiv erfolgreicher sein als der Pessimismus des Wissens um den endgültigen Tod, - weshalb dann auch die meisten Menschen an die Nichtendgültigkeit des Todes glauben.
Anm.: Gibt es also Gene, genetische Dispositionen für Mentalität, Religion, Unsterblichkeitsglauben? – Becker: Das Todeswissen ist nicht biologisch programmiert. - Wieso nicht? – Und Zeitbewusstsein? – Vgl. genetisch Disposition für Spracherwerb!
Becker: Die emotionale Grundlage für das Wissen um den eigenen Tod geht (beim frühen Menschen) auf eine Identifikation mit dem anderen zurück. Im Licht der Gleichheit bedeutet diese Identifizierung den Eindruck der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit des eigenen Lebens. (Vgl. S.25) Individualitätsbewusstsein ist eine ´gewordene´ (kulturell tradierte) gedankliche Selbstzuschreibung. In ihm „spiegelt sich weder eine biologische noch eine biophysische Realität.“
Die Menschen haben die Erinnerung an die präkulturelle Bewusstseinslage (ante scientiam mortis) bewahrt. Die Nachteile des Todeswissens haben sie in der Sehnsucht nach naiv-animalischer Unbewusstheit des Todes zum Ausdruck gebracht: in Bildern der Teilhabe an Existenzformen der Ewigkeit und Unsterblichkeit.
Eine Rückkehr zur naiver Unbewusstheit wird in Epikurs Plädoyer suggeriert: Der Tod geht uns nichts an. Wenn wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr da. - Aber wen kann das überzeugen? Das existentielle Problem besteht nicht im Faktum des Todes, sondern im vorlaufenden Wissen um dies Faktum (Vgl. Adorno, Negative Dialektik, Ffm 1970, S.45 f.)
(Reclam 1990, S.74 f.: ´Der Tod´)
Manche meinen, man könne nicht an den Tod glauben, weil man sich nicht vorstellen könne, nicht zu sein, d.h. nicht vorzustellen. Nagel meint: Man könne sich ja auch nicht vorstellen, eine Zeit lang bewusstlos gewesen zu sein.
Anm.: Aber das ist was anderes: ´vorstellen, nicht vorzustellen´ oder ´vorstellen, nicht vorgestellt zu haben´, weil bei Letzterem die Negation des Vorstellens nicht das Vorstellen der Negation betrifft.
Nagel: aus der Innenperspektive können wir (beides) nicht vorstellen, wohl aber aus der Außenperspektive. Man stellt sich als dritte Person vor und diese als Leiche.
Anm.: Ich bin dann ein anderer. Die Negation des Vorstellens (oder Seins) betrifft den Vorstellenden (mich) nicht. Ich stelle mich als einen anderen (Toten) vor. Bleibe also der unsichtbare Zuschauer eine objektiven Welt mit lebenden und toten Körpern darin.
Nagel: „Wenn wir uns etwas vorstellen, ist es dafür nicht notwendig, dass wir uns vorstellen, wie es für uns wäre, es wahrzunehmen. ...Natürlich lebt man, während man über seinen eigenen Tod nachdenkt, doch dies ist ebenso wenig problematisch wie der Umstand, dass man bei Bewusstsein ist, während man sich vorstellt, man sei bewusstlos.“ (S.75)
Nagel: Es reicht mir als Grund dafür, kein Leben (als Seele, Geist, ohne den alten Körper etwa in einem neuen) nach dem Tod anzunehmen, dass bewusstes Leben vor dem Tod gänzlich vom Nervensystem (das beim Tod zerstört, defunktionalisiert wird) abhängt. Anderen reicht es nicht.
Ist es schlimm, nicht mehr zu existieren oder nicht? –
Natürlich nicht. Schlimm kann nur sein, sich vorzustellen, nicht mehr zu sein für alle Zeit, also für den existierenden, nicht den Nichtexistierenden. „Der Gedanke, dass die Welt ohne mich weitergeht, dass ich zu nichts werde, ist nur sehr schwer zu schlucken. Es ist nicht ganz klar, warum eigentlich. Wir akzeptieren das Nichtsein vor unserer Geburt, warum nicht auch das nach dem Tod. Irgendwie scheint da ein Unterschied zu sein.
Angst vor dem Tod (als Nichtexistenz) kann man eigentlich nur haben, wenn man ihn überlebt und dies Leben dann schrecklich wäre (die Hölle, mit denen dem Christen gedroht wird).
Anm.: Im Buddhismus ist das Ausgelöschtwerden positiv, weil das Weiter- bzw. Überleben unaufhaltsames Leiden wäre bzw. ist.
Der Preis für die mögliche Akzeptanz des eigenen Todes lässt sich nur mit Gegenleistungen kompensieren: Imaginatorische Leistungen wie Visionen des Aufgehens in übernatürliche Dimensionen oder übernatürlicher Kräfte und Instanzen, die für den Tod verantwortlich sind (magische Praktiken). Kollektivierung des Dilemmas erfolgt in Mythen, Religionen.
Anerkennung und Abwehr des Todes sind die Folgen des Todeswissens.
Damit verbindet sich eine tiefgehende Ambivalenz: einerseits einzigartig und unendlich wertvoll und andererseits nicht sterblich sein zu wollen.
Beckers These: Dem Zwang zur Dilemmaentlastung liegt der innere Konflikt zwischen menschlicher Sozialnatur (Anlage zur Geselligkeit in Kleingruppen) und Individualitätsbewusstsein (Motivation zur gesellschaftlichen Anerkennung) zugrunde.
Becker S.55: Zum Individualitätsbewusstsein gehört von Anfang an die Einsicht in die äußerste Knappheit von Positionen der gesellschaftlichen Anerkennung der Individualität. Statt seltener Selbstbehauptung in Positionen gesellschaftlicher (realer) Anerkennung (die aber die volle Akzeptanz des existentiellen Dilemmas, d.h. des Todes als Lebenssinn impliziert): nun , gewissermaßen ersatzweise (imaginäre) Anerkennung eigener Individualität durch Teilhabe an göttlicher Individualität (mit Verzicht auf reale gesellschaftliche Anerkennung).
Teilhabe und Selbstbehauptung können jeweils in zwei Sprachtypen ausgedrückt werden: in reziprok-kommunikativer (intersubjektiv verstehbar; Mensch-Mensch) oder linear-autoritativer (mythisch-religiöser, Gott-Mensch) Sprache ausgedrückt werden.
Anm.: Wie noch von Becker gezeigt wird, wirkte sich die Dominanz mythisch-religiöser Sprache im Rahmen der beiden Grundmodelle der Dilemmabewältigung (also Teilhabe und Selbstbehauptung) im Laufe der Menschheitsgeschichte dahingehend aus, dass Großgruppen sich bildeten und die biologische Präferenz der menschlichen Art für Kleingruppen kulturell überformt wurde.
S.49: In einer reziproken Sprache ist eine gesellschaftliche Darstellbarkeit der Individualität an sprachliche Ausdrücke für Extremwerte der Besonderheit gebunden. Annerkennungspositionen in der Gesellschaft waren aber knapp. „Es bestand nicht die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Internalisierung des menschlichen Individualitätsbewusstseins. Eine Entlastung vom existentiellen Dilemma, eng mit dem Individualitätsbewusstsein verbunden, war weitgehend allein durch Externalisierung des Individualitätsbewusstseins möglich. Den Sprachen der Mythen und Religionen, mit ihren jeweiligen besonderen Weltbildern, kommt diese Funktion der Externalisierung des Individualitätsbewusstseins und der menschlichen Dilemmaentlastung zu.“
Typisch für die meisten Religionen ist die Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und Übernatürlichen und der letztinstanzlich-imperativische Charakter übernatürlicher Mächte. Instanz der Wahrheit ist der göttliche Sprecher mit linear-autoritärer (nicht notwenduig intersubjektiv verstehbarer Sprache). Religion ist dann mit G. Mensching (Die Weltreligionen, Darmstadt 1959, S,284) „erlebnishafte Begegnung des Menschen mit heiliger Wirklichkeit und antwortendes Handeln des vom Heiligen existentiell irgendwie betroffenen Menschen.“
Die religiöse Wahrheitsinstanz ist des Ergebnis (durch Projektion) einer Externalisierung von Individualität. Die Religionen sind bestimmt geartete Formen der Reaktion auf das existentielle Dilemma, dessen Kern das menschliche Individualitätsbewusstsein ist. Nach Feuerbach ist Religion Projektionsprodukt des Menschen durch Selbstentfremdung – in Abhängigkeit vom Todesbewusstsein: Ohne Tod keine Religion. Max Stirner rückt die Rolle des Individualitätsbewusstsein in den Mittelpunkt. Er sagt: Mein Wesen wird in der Religion von mir getrennt und über mich gestellt (aber, so Stirner in Der Einzige und sein Eigentum: Es geht nichts über mich!)
Becker: Die Externalisierung führt dazu, Individualität allein Gott (Göttern) zuzusprechen. Der Mensch hat Teil an der göttlichen Unsterblichkeit (durch Gotteskindschaft, Unterwerfung, bedingungslose Gefolgschaft. Die Inhalte der übernatürlichen Dimensionen spiegeln die gesellschaftlich nicht integrierbare Individualität.