(Wolfgang Wieser, ´Was ist Leben´ in Merkur 552, S.224 ff)
Die Evolution der Individualität erwies sich als die effektivste Strategie zur Eroberung neuer Lebensräume. Zu ihr gehört die Strategie der geschlechtlichen Fortpflanzung. Signale zur Identifikation (zum gegenseitigen Erkennen als Geschlechtspartner) individueller Partner und die aus diesen Signalen fließenden spezifischen Verhaltensweisen wurden zu entscheidenden Motoren der Evolution.
Bei Vögeln und Säugern einerseits und Insekten anderseits entstand eine neue Form biologischer Organisation, deren Angehörige sich einander entweder als Individuen oder als Angehörige des übergeordneten Systems (Staat, kooperative Gemeinschaft) erkennen. Zähmung der intraspezifischen Konkurrenz durch kooperatives Verhalten ist dabei nötig. Genetische Homogenisierung kann den Egoismus der Teile mildern (z.B. soziale Insekten, wo die Individuen von einer Mutter stammen, die womöglich durch haploide Männchen befruchtet wurde). Extrem verwirklicht ist das beim vielzelligen Organismus: die Körperzellen sind Nachommen einer einzigen Zelle (Klon).
Bei den Säugern wurde die Schraube der Evolution der Individualität womöglich überdreht, als homo sapiens mit seinem großen Gehirn und seiner genetischen Disposition für Sprache entstand. Mit der Fähigkeit zur „Erschaffung einer symbolischen Wirklichkeit“ hat sich „das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Sozialität auf dramatische Weise verändert. Die Integration des Individuums in eine Sozietät ist kaum (oder nur kurzfristig und nur unter starkem äußeren Druck) möglich. – Vgl. nachher dazu R. Girard Das Heilige und die Gewalt).
Nils Eldredge in Magulis/Sagan Leben, S.8: “Warum hat die Evolution eine vernunftbegabte Spezies hervorgebracht? Warum hat sich unser Bewusstsein entwickelt, die Wahrnehmung unserer eigenen Existenz? Welchem Zweck dient es? Nach meiner Überzeugung hat der Behaviorist Nicholas Humphries mit seiner Vermutung recht: Mit der Fähigkeit, ihr inneres Ich zu befragen, gewannen unsere Vorfahren Einblicke auch in das Denken ihrer Paarungspartner, ihrer Kinder und der anderen Mitglieder ihrer sozialen Gruppen. Sich selbst zu kennen, ist der beste Weg, um andere kennenzulernen, und damit ein Vorteil bei der Bewältigung der täglichen Verwicklungen sozialen Zusammenlebens.“
Jaques Monod meint, die menschliche Sprache wurde „an dem Tag geboren ... wo bei einem Individuum schöpferische Kombinationen oder neue Assoziationen an andere weitergereicht wurden und nicht mehr mit ihnen untergehen konnten.“
Charles Hockett verglich die menschliche Sprache mit anderen, insbes. tierischen Kommunikationssystemen (siehe David Crystal: Cambridge Enzyklopädie der Sprache, Campus 1993, S.396 f) hinsichtlich folgender 13 Merkmale: Sprechen und Hören; Rundsendung und gerichteter Empfang; Vergangenheit des Signals; Austauschbarkeit; Rückkopplung; Spezialisierung; Bedeutungsgehalt; Willkürlichkeit; isolierbare Elemente; Transfer; Produktivität; Überlieferung; strukturelle Dualität.
(Zu Folgendem siehe mein Buch Neuromythen, Ffm: Zweitausendeins, Kapitel ´Sprachgenesis´, S.68 ff. Ich beziehe mich dort auf Eduard Rossi: Die Abhängigkeit des menschlichen Denkens von der Stimme und Sprache. Bonn: Bouvier 1958, und auf Oscar Kiss Maerth: Der Anfang war das Ende. Der Mensch entstand durch Kannibalismus – Intelligenz ist essbar. Düsseldorf: Econ 1971)
Die menschliche Lautsprache kann schwerlich als Fortentwicklung tierischer lautlicher Kommunikation, insbes. nicht der von Affen, angesehen werden. Für die menschliche Lautsprache ist u.a. die Zunge unerlässlich. Kein Tier benutzt sie zur Artikulation von Lauten (Zunge ist ausschließlich Verdauungsorgan). Gestiegene Intelligenz kann sie auch nicht zu einem Artikulationsorgan gemacht haben, denn keineswegs steht bei den Tieren die Zahl der Lautvarianten im geraden Verhältnis zu ihrer Intelligenz. Affen beherrschen von Geburt an dreißig verschiedene Laute. Ein menschliches Neugeborenes kann weder artikuliert noch unartikuliert ´sprechen´. Die Affenlaute sind also nicht der Anfang der menschlichen Sprache. Deren Anzahl hätte mit zunehmender Intelligenz wachsen und dann eine einheitliche Sprache der gesamten Art ergeben müssen.
Die Lautfolgen in den akustischen Äußerungen der Affen entstehen im übrigen durch Aus- und Einatmen. Zudem: Alle Sprachen der Menschen werden ausschließlich durch Ausatmen artikuliert. (Aber Lachen und Weinen stammen von den Affen.)
Ein Fünftel des Großhirns ist beim Menschen heute mit Sprache beschäftigt. Zu ihrer Entstehung bedurfte es außer neuer Gehirnzentren (Verbindungen mit der Zunge) der Kehlkopfsenkung und Vergrößerung des Rachenraumes sowie Verkleinerung des Mundraumes – mit Nachteilen beim Kauen, Schlucken und Atmen. (Bei den Neandertalern war der Gaumen flach, der Kehrkopf noch ziemlich hoch. Den Grenzvokal i und damit die Intonationsmöglichkeit verschiedener Vokale hatten sie womöglich noch nicht. Artikulierte Lautsprache muss gelernt werden, alleingelassene Kinder entwickeln allenfalls Gebärdensprache. Zu einer mit der Zunge artikulierten Lautsprache gelangen sie nicht. Zungenartikulation müssen sie von bereits Sprechenden lernen.
Sprache kommt aus dem Atem(druck) , formuiert im Raum zwischen Lippenabschluß des Mundes und den Stimmlippen des Kehlkopfes. Sie ist ein sensomotrisches Geschehen, das die Emotionen körperlicher Sensomotorik verfügbar (hörbar) macht bzw. reflektiert. Beim Neugeborenen wie bei Tieren gibt es den dazu geeigneten Mund-, Nasen- und Rachenraum noch nicht. (Vögel haben ein eigenes Organ zum Singen: die Syrinx. Das Pferd wiehert durch die Nase. – Weiteres siehe Neuromythen, S.85 ff)
In den letzten 1 bis 2 Millionen Jahren verdreifachte sich das Gehirnvolumen unserer Vorfahren von 400 auf 1400 ccm – allerdings: seit mindestens 50 000 stagniert es. (Beim Affen mit heute max. 400 ccm betrug die Vergrößerung max. 10% im selben Zeitraum.) Skelettfunde aus dieser Zeit vor 50000 (von lediglich einigen Hundert Individuen von den ca. 35 Milliarden, die tatsächlich gelebt haben) und insbesondere ein großer Teil der Schädelfunde zeigt, dass Menschen Menschen verzehrt haben und insbesondere ihre Gehirne. (Gehirnkannibalismus z.B. beim Volk der Fore in Papua-Neuginea wurde in den 50-Jahren verboten wegen des dem BSE ähnelndem Kuru-Syndroms.) Kiss Maerth macht (in seinem oben genannten Buch) Gehirnkannibalismus für das Gehirnwachstum des Menschen verantwortlich. Näheres siehe Neuromythen , S.56 ff. – Warum Gehirnkannibalismus? ‑ Gehirn ist eine Sexdroge, insbes. die Hypophyse (wegen ihrer hormonellen Wirkung). - Warum Kannibalismus? „Beim Versuch, den Tod zu überwinden, wurde der Mensch zum Kannibalen“, schreibt Luigi DeMarchi: Der Urschock. Unsere Psyche, die Kultur und der Tod. Darmstadt: Luchterhand Lit.Verl. 1968. Als die Menschen begannen, sich mit den Toten zu identifizieren und im Tod des anderen den eigenen erkennen konnten, war der Kannibalismus womöglich eine Art Therapie gegen den Schrecken des Todesbewusstseins.
(vgl. mein Buch Philosophie der letzten Dinge. Diederichs: München 1997, S.60 ff)
Arthur Koestler: Der Mensch, Irrläufer der Evolution (Goldmann Sachbuch 11272) meint: der Mensch sei fürs Todesbewusstsein nicht programmiert. Während sein Intellekt sich ständig mit dem Tod beschäftigt, verdrängen ihn Instinkt und Gefühl. „Ausgeliefert dem Paradoxon eines Bewusstseins, das aus pränateler Leere auftaucht und in postmortalem Dunkel wieder versinkt, lief der Verstand Amok. Er erfand ganze Heere von Geistern der Verstorbenen, von Göttern, Engeln und Teufeln, bis die Atmosphäre mit unsichtbaren Wesen gesättigt war....“ Aber ohne das Todesbewusstsein und die Weigerung, an die Endgültigkeit des Todes zu glauben, gäbe es auch die Pyramiden nicht, nicht die Literatur, nicht die Kultur (mit ihrer Unsterblichkeitssymbolisierung) überhaupt ( vgl. dazu Robert Jay Lifton: Der Verlust des Todes. Über die Sterblichkeit des Menschen und die Fortdauer des Lebens. München: Hanser 1986).
Für Canetti steht am Anfang der menschlichen Vernunft die tötende Gewalt als eine Art Erkenntnispraxis: Versuch der Erkenntnis des Todes. Auch in der Bibel steht am Anfang der Menschheit die Gewalt des ausübenden Todes: des Essens durch Töten. Die Ursünde geschieht trotz Todesdrohung (also bei Todesbewusstsein). Die Ursünde ist das verbotene Essen. Erlaubt war den Menschen wie Tieren nur Pflanzenkost. Erst nach dem Sündenfall und nach der Sintflut wurde den Menschen erlaubt, alles was sich regt (Tier wie Mensch) zu töten und zu essen. (Näheres in meinem Buch De grausame Wahrheit der Bibel, Campus: Ffm 1995)
Bei René Girard (Das Heilige und die Gewalt) steht der Opfer-Lynchmord am Anfang menschlicher Gesellschaft. Er erst ermöglicht das Leben der Gruppe, indem er die mimetische Rivalität mit ihrer Spirale der Gewalt auffängt, Frieden stiftet. Die Vernunft beginnt mit dem Ungeheuerlichen, mit der nichtinstinktiven Aufmerksamkeit auf den Leichnam des kollektiven Opfers. Die Leiche ist das erste Zeichen oder Signifikante (vgl. meine Philosophie der letzten Dinge, S.70).
(zu Werner Becker: Das Dilemma der menschlichen Existenz. Die Evolution der Individualität und das Wissen um den Tod. Kohlhammer, Stuttgart 2000)
Vorbemerkung: Das eine ist die Evolution von Individualität (mit dem notwendigen Tod der Individuen seit der Trennung von Soma und Keimbahn), das andere das Bewusstsein der Individualität (und das des Todes). Auch für das Bewusstsein der Individualität (des Bewusstsein überhaupt oder der Vernunft) macht Becker die Evolution verantwortlich. So werden aber die Kategorien vermengt: ´Individuum sein´ und ´Wissen, ein Individuum zu sein´, sind zwei verschiedene Sachen (so wie res extensa und res cogitans). Bewusstsein oder Vernunft: das ist das Medium, das wir sind, das bin ich. Wir denken uns, stellen uns vor eine Welt- und Naturgeschichte – aus der Perspektive des unbeteiligten, objektven Zuschauers - oder Gottes. Sobald wir dann dort im Evolutionsgeschehen auf etwas stoßen, was Subjektivität vermuten lässt (Wesen, die artikuliert Laute von sich geben, Tote bestatten, Figuren schnitzen), sind wir bei uns selbst, unserer Subjektivität, die nie etwas Objektives ist wie das Individuum als Lebewesen und sein Tod (Zerfallen). Es gibt für das Bewusstsein der Individualität und das Bewusstsein des Todes keinen objektiven Zuschauer mehr, nur den sich einfühlenden!
Subjektivität (Bewusstsein, Vernunft) sind keine naturwissenschaftlichen, objektiven Phänomene mehr, also auch keine (biologischen) Evolutionsprodukte. Dennoch spricht man von einer Evolution der Lebewesen bis hin zum Menschen, nimmt Bewusstsein und Wissen als evolutive Errungenschaften. Man sollte sich dabei darüber im Klaren sein, dass solches völlig unklar ist. Ich nehme mich selbst dann als objektives Subjekt, so als könnte ich von mir selbst abstrahieren und mich von außen sehen – als Subjekt, Bewusstsein, Wissen ... ohne es zu sein. –
Becker schreibt im Vorwort: „Das menschliche Bewusstsein der Individualität ist, so wenig wie der menschliche Geist überhaupt, ´vom Himmel gefallen´ (H. v. Ditfurth), sondern gehört wie dieser in den Gesamtzusammenhang der Evolution des Menschen, allerdings als ihr ungemein spätes Produkt.“ Er will zeigen, dass das Individualitätsbewusstsein an das lebensphilosophische Grundproblem (die Dilemmabewältigung) gebunden ist, dass es eine (die biologische Evolution voraussetzende) Reaktion auf das Dilemma im menschlichen Bewusstsein ist. Das Dilemma ist: Jeder Mensch weiß um seine Endlichkeit; doch keiner kann es so einfach ´aushalten´, mit dem Tod als dem Ende des Lebens zu existieren.“ Becker betont: Das Wissen um den Tod (möglicherweise das letzte verbliebene Kriterium der Unterscheidung von Mensch und Tier) gehört nicht zur biologischen Ausstattung des Menschen. (Ähnlich wie die Sprache: Eine genetische Disposition ist da, sonst könnte man keine Sprache lernen. Aber sie muss eben gelernt werden. Oder gemeinschaftlich neu entwickelt werden, denn wenn nicht, wie wäre sie erstmals entstanden – in eine der zigtausend Spracharten?) Becker: „Zum einen hat die menschliche Gattung es erworben (wie?), zum anderen erwirbt es jeder Einzelne im Übergang vom Kind zum Erwachsenen.“ (S.13) Also zwei Menschheitsphasen wie zwei lebensgeschichtliche oder biographische Phasen unterscheidet Becker: die Phase ante und die Phase post scientiam mortis.