Materialien 10
Arthur Schopenhauer ´Über den Tod´ und Burkhard Müller `Jessie und der Hund´

Schopenhauer

Welt als Wille und Vorstellung II, Kapitel 41 `Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich´

„Der Tod ist der eigentliche inspirierende Genius oder der Musaget der Philosophie, weshalb Sokrates diese auch thanatou melete (Vorbereitung auf den Tod: Platon, Phaedo p.81A) definiert hat“ (Beginn des Kapitels 41).

Das Tier lebt ohne eigentliche Kenntnis des Todes: daher genießt das tierische Individuum unmittelbar die ganze Unvergänglichkeit der Gattung. Aber es hat Todesfurcht. Die ist unabhängig von der Erkenntnis. Todesfurcht ist die Kehrseite des Willens zum Leben. Lauter Wille zum Leben ist das Tier, dem Tode verfallen: es möchte Zeit gewinnen, wenn es flieht, zittert, sich zu verbergen sucht. Ebenso der Mensch. Das größte Übel ist der Tod.

Die grenzenlose Anhänglichkeit an das Leben kommt nicht aus einer Erkenntnis oder Überlegung (etwa vom objektiven Wert des Lebens). Vom Standpunkt der Erkenntnis erscheint kein Grund, den Tod zu fürchten. (Vgl. Epikur nach Diogenes Laertius: Der Tod geht uns nichts an!)

Nicht der Gedanke des Nichtseins lässt uns den Tod so schrecklich erscheinen, sondern die Zerstörung des Organismus, des Leibes, in dem der Wille sich darstellt. „Ganz allein vom blinden Willen geht die fuga mortis (die Flucht vor dem Tod) aus.“

Unzerstörbar durch den Tod der Individuen ist die Gattung (Art, Spezies). Das Individuum stellt sich als bloße Differenz der Spezies dar. Es hat keine Erinnerung seines Daseins vor seiner Geburt und kann von seinem jetzigen Dasein auch keine nach dem Tode haben. „In das Bewusstsein setzt aber jeder sein Ich: dieses erscheint ihm daher als an die Individualität gebunden, mit welcher ohnehin alles das untergeht, was ihm als diesem eigentümlich ist und ihn von den anderen unterscheidet. Seine Fortdauer ohne die Individualität wird ihm daher vom Fortbestehen der übrigen Welt ununterscheidbar.“ (S.627)

Eigentlich aber liegt im Worte Ich das größte Äquivokum. ... Je nachdem ich dieses Wort verstehe, kann ich sagen: ´Der Tod ist mein gänzliches Ende´; oder aber auch: ´Ein so unendlich kleiner Teil der Welt bin ich; ein ebenso kleiner Teil meines wahren Wesens ist diese meine persönliche Erscheinung´.

Aber das Ich ist der finstere Punkt < blinde Fleck > im Bewusstsein, wie auf der Netzhaut gerade der Eintrittspunkt des Sehnerven blind ist. ... Unser Erkenntnisvermögen ist ganz und gar nach außen gerichtet, dementsprechend, das es Produkt einer zum Zwecke der Selbsterhaltung, also des Nahrungssuchens und Beutefangens entstandenen Gehirnfunktion ist. Daher weiß jeder nur von sich als diesem Individuo, wie es in der äußeren Anschauung sich darstellt. Könnte er hingegen zum Bewusstsein bringen, was er noch überdies und außerdem ist; so würde er seine Individualität willig fahren lassen. ... Im Grunde ist doch jede Individualität nur ein spezieller Irrtum, Fehltritt, etwas, was besser nicht wäre, ja wovon uns zurückzubringen der eigentliche Zweck des Lebens ist.“ (S.628)

(Zum Blinden Fleck und Todesbewusstsein vgl. Arnold Gehlen Der Mensch, 1969, S.309 und G. Schulte Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie, Campus: Ffm 1993)

Schopenhauer: Das Unzerstörbare, „das Ewige im Menschen“,  ist nicht in den Intellekt zu setzen (wie es die Philosophen gemacht haben), sondern in den Willen, das „Prinzip des Lebens“ . Das Ewige, Unzerstörbare stellt sich im Bewusstsein als Wille dar. „Über diese unmittelbarste Erscheinung desselben hinaus können wir freilich nicht; weil wir nicht über das Bewusstsein hinauskönnen.“ (S.634)

Man denke sich „jenen Wechsel von Tod und Geburt in unendlich schnellen Vibrationen, und man hat die beharrliche Objektivation des Willens, die bleibenden Ideen der Wesen vor sich, feststehend, wie der Regenbogen auf dem Wasserfall. (S.612) Diese eine Gegenwart ist die alleinige Form wirklichen Daseins. (Anm. S.613)

„Im Grunde aber sind wir mit der Welt ... eins: ihr innerstes Wesen ist unser Wille, ihre Erscheinung ist unsere Vorstellung.“ Zwischen der Fortdauer der Außenwelt nach meinem Tod und meiner eigenen Fortdauer ist kein Unterschied.

Hierzu ein metaphysisches Experiment: „Man versuche nämlich, sich die keinenfalls gar ferne Zeit, da man gestorben sein wird, lebhaft zu vergegenwärtigen. Da denkt man sich weg und lässt die Welt fortbestehen: aber bald wird man zu seiner eigenen Verwunderung entdecken, dass man dabei noch da war. Denn man hat vermeint, die Welt ohne sich vorzustellen: allein im Bewusstsein ist das Ich das Unmittelbare, durch welches die Welt erst vermittelt, für welche allein sie vorhanden ist. Dieses Zentrum alles Daseins, diesen Kern aller Realität soll man aufheben und dabei dennoch die Welt fortbestehen lassen: es ist ein Gedanke, der sich wohl in abstracto denken, aber nicht realisieren lässt. ... Statt des Beabsichtigten dringt sich uns dabei das Gefühl auf, daß die Welt nicht weniger in uns ist als wir in ihr und dass die Quelle aller Realität in unserem Innern liegt. Das Resultat ist eigentlich dies: die Zeit, da ich nicht sein werde, wird objektiv kommen, aber subjektiv kann sie nie kommen. –Es ließe sich sogar fragen, wieweit denn jeder in seinem Herzen wirklich an eine Sache glaube, die er sich eigentlich gar nicht denken kann;“ (die Welt ohne sich) “oder ob nicht vielleicht gar, da sich zu jenem bloß intellektuellen ... Experiment noch das tiefinnere Bewusstsein der Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich gesellt, der eigene Tod uns im Grunde die fabelhafteste Sache von der Welt sei.“ (S.622)

„Über dies alles nun aber ist der Tod die große Gelegenheit, nicht mehr Ich zu sein: wohl dem, der sie benutzt. Während des Lebens ist der Wille des Menschen ohne Freiheit: auf der Basis seines unveränderlichen Charakters geht sein Handeln an der Kette der Motive mit Notwendigkeit vor sich. ... Lebte er immerfort; so würde er vermöge der Unveränderlichkeit des Charakters auch immerfort auf dieselbe Weise handeln. Demnach muß er aufhören, zu sein, was er ist, um aus dem Keim seines Wesens als ein neues und anderes hervorgehen zu können.“ (Vgl. Wiedergeburts– und Karma-Lehre) „Daher löst der Tod jene Bande: der Wille wird wieder frei: denn im esse (Sein) nicht im operari (Handeln) liegt die Freiheit. ... Das Sterben ist der Augenblick jener Befreiung von der Einseitigkeit einer Individualität, welche nicht den innersten Kern unseres Wesens ausmacht, vielmehr als eine Art Verirrung desselben zu denken ist: die wahre ursprüngliche Freiheit tritt wieder ein, in diesem Augenblick, der als eine restitutio in integrum (Wiedereinsetzung in den vorigen Stand) betrachtet werden kann. ... Willig, freudig sterben ist das Vorrecht des Resignierten. ... Das Dasein, welches wir kennen, gibt er willig auf: was ihm stattdessen wird, ist in unseren Augen nichts; weil unser Dasein, auf jenes bezogen nichts ist. Der buddhaistische Glaube nennt jenes Nirwana, d.h. erloschen.“ (S.650 f)

Burkhard Müller

´Jessie und der Hund´ aus Stephen King. Das Wunder, das Böse und der Tod. S. 118-122

„Das Todesproblem, sollte es je bezwungen gewesen sein, ist wieder da, und ungebändigter als je zuvor. Das Christentum hatte behauptet, es gelöst zu haben - ´Tod, wo ist dein Stachel? ´war sein triumphierender Kampfruf. Aber es hatte sich dabei zuviel auf einmal vorgenommen, nämlich mit einem Streich des Todes und der Toten ledig zu werden. Das sind zunächst zwei ganz verschiedene Dinge: Der Tod betrifft die Zukunft der Lebenden, die Toten drängen zu ihnen aus der Vergangenheit heran, eine doppelte Drohung. Dem älteren Denken schien das zweite gewichtiger; es wollte ihm nicht einleuchten, dass die Toten sollten annihiliert worden sein, es hielt sich an das Gesetz der Trägheit, das besagt, dass kein Zustand sich ohne zulänglich Ursache ändert, und das Sterben schien dies für den Tod nicht zu sein: So wenig <wie es das Sterben ist> konnte den Übergang in ein unvorstellbares Nichts unmöglich herbeiführen. Die Toten, depotenzierte Menschen und damit durchaus nicht einverstanden, mussten also irgendwo untergebracht werden. Sie gingen in den Busch oder vergleichbare Orte, grollende Gespenster an der Peripherie des von den Lebenden bewohnten Raums, die jenen die Ausschließlichkeit der Verfügung über die Lebensgüter – die primären wie Stoffwechsel, Sonnenlicht, Sexualität, die sekundären des materiellen Besitzes – neideten. Man musste sie, um ihren berechtigten Unwillen zu beschwichtigen, mit kleinen symbolischen Portionen dieser Lebensgüter bedenken; vielleicht taten sie dann sogar das ein oder andere für einen, da sie ohnehin keine Hoffnung und sonst keine Beschäftigung hatten. So entstanden das Opfer und die Religion. Das Christentum nun stellt den Toten nicht mehr nur eine Abstellkammer mit zeremonialer Abspeisung zur Verfügung; sondern indem es die Toten von der Erde (wo sie sich bei den Heiden mehr oder weniger immer befunden hatten) weggenommen und ins Paradies versetzt hat, sollte das <das Paradies oder das Totsein> auf einmal sogar viel besser als das Leben selbst sein und der mürrische Waffenstillstand zwischen Toten und Lebenden sich endlich in einen wahren Frieden verwandeln. Und zugleich wären die Lebenden von der Angst vor der schattenhaften oder nichtigen Zukunft befreit. Das war zu schön, um wahr zu sein, und von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, waren die Christen auch nicht so begierig nach diesem Jenseits des Lebens, wie sie es, um ihrer Verheißung die Ehre zu geben, hätten sein müssen.“

(Vgl. das Nachtodparadies des Islam mit seinen 72 Huris für jeden heiligen Krieger, sogar Selbstmordattentäter und garantiert noch 62 Paradiesplatzkarten für Anverwandte.)

Christen ist der Selbstmord verboten – als anmaßlicher Eingriff in Gottes Befugnisse. Gemeinhin kann kein Paradies sie veranlassen, ihr Erdenleben auch nur einen Tag abzukürzen. Sie fahren fort, „Wein zu predigen und Wasser zu trinken.“

Wenn nun aber das Christentum mit seinen hochgespannten Versprechungen zusammenbricht, dann bleibt gar nichts. Es lässt sich nicht einmal der so viel dürftigere ältere Zustand wiederherstellen, als Lebende und Tote miteinander wie zwei feindliche Stämme vorsichtig einen Kompromiss aushandelten, der zwar die einen nicht ganz von der Angst und die anderen längst nicht von der Not befreite, aber doch so einigermaßen funktionierte. Im Totenreich herrscht nunmehr <postchristlich!> völlig unversorgte Anarchie, und die Toten, deren niemand gedenkt und denen keiner opfert, müssen sich wieder, wie in den ältesten Zeiten, holen, was sie brauchen: das Leben der Lebendigen.“

Beispiel, Stephen King. Er lässt Verständnis für die Totenvernunft, die seinen kannibalischen Monstren eignet, erkennen. In Das Spiel tritt das alte Leichentier, ein Hund, auf „und es kommt zum Schowdown zischen ihm und Jessie, der Protagonistin des Buchs, die in einer abgelegenen Sommerhütte nackt und hilflos ans Bett gefesselt ist, nachdem ihren Ehemann, der solche Spielchen mochte, mittendrin der Schlag getroffen hat: jetzt liegt er tot vor ihr auf dem Fußboden. ... Der fragliche Leichnam steht für alles, was die Lebendem dem anderen Reich vorenthalten. Was dessen Gesandter <der Hund> der Frau <Jessie> vorschlägt <an der Leiche seinen Hunger zu stillen>, ist maßvoll und überlegt. .. Der Hund regt an, wieder an dem Punkt zu beginnen, wo Opfer und Religion und die Idee der Teilhabe entstanden sind. Die entsetzte Frau verweigert das und schafft mit dieser Weigerung erst die Bedingung für den wahrhaft atavistischen Zustand, wo die Toten nicht etwas, sondern alles von den Lebenden wollen, also böse werden.

Stephen Kings Totengeister toben darum mit solch finsterer Erbitterung, weil sie doppelt enterbt sind: nicht nur um das christliche Paradies betrogen, sondern selbst um jenen Tribut, den ihnen die Heiden gezollt hatten, wenn sie ihnen zur Fristung ihres Schattendaseins das Schälchen Milch vor die Tür stellten. Aber was sollen die Lebenden tun? Ihr Vorzug, lebendig zu sein, ist ein zufälliger und transitorischer, auch sie sind ja schon als die künftigen Gespenster designiert. Zur ernsthaften Beiläufigkeit des Schälchen Milch fehlt ihnen die Ahnenfrömmigkeit. Solange sie aber lebendig sind, können sie vom Lebenssaft beim besten Willen nichts abgeben, ohne ihn schmerzlich zu vermissen – wie sich am deutlichsten an den Vampiren weist: Die Lebenden müssen in dem Maß erbleichen, wie die Toten ihnen das Blut abzapfen, denn für beide langt es einfach nicht, und daran scheitert der von den Vampiren vorgeschlagene Kommunismus des Bluts. Was das Geld im Verkehr der Lebenden zueinander, das ist das Blut im Verhältnis der Lebenden zu den Toten: das allgemeine Äquivalent, das Beziehungen kraft seiner Flüssigkeit und seiner Knappheit stiftet.

So täten beide Gruppen, Tote und Lebendige – anstatt dass die Lebenden engherzig und kurzsichtig auf ihre geringen und hinfälligen Privilegien pochten und die Toten einen unfruchtbaren Neid hegten, der nie erhalten kann, was er wünscht -, gut daran, die Gemeinsamkeit ihrer Lage und ihres Interesses zu erkennen. Das Übel, das sie beide trifft, trägt den Namen der Geschichte: des Missverhältnisses zwischen der Unzahl unwiderrufener Individuen, die ihre Tiefen bevölkern, und dem lächerlich winzigen Proviant, der zu ihrer Unterhaltung je aktuell zur Verfügung steht: so wenig besonnte Erde, so wenig warmes Blut, ein Dotter, vom dem hundert Generationen zehren müssen. Das Problem der Toten, die die Lebenden auf ihre Weise mit der Vergangenheit bedrohten, schien sich erst vom Problem des Todes, für jeden Lebenden ein künftiges, abzuspalten. Aber es erweist sich nunmehr als dessen Aspekt: als eine andere Seite des Unrechts, das allen Lebenden widerfahren ist oder wird, und nur insoweit gehören die Toten dem Bösen an, als sie ihm schon erlegen sind. Das eine haben die Lebenden den Toten voraus: Sie allein sind klagefähig und sollten diesen Vorzug nutzen, einen Präzedenzfall zu schaffen, der allen zugute käme, den Toten und den Tieren.

Je älter das Denken, umso bereitwilliger wird es dieses Unrecht zugeben; der Glaube an Gespenster, mit all seiner düsteren Färbung, stellt das naheliegende Modell einer Welt dar, in der das auch durch den Tod nicht umkehrbare Prinzip der Individuation mit dem beschränkten Raum der bewohnbaren Erde kollidiert und eine dauerhafte Notlösung angestrebt werden muss. Späteres Denken will dem Problematischen des Todes entweder dadurch ausweichen, dass es ihn nur als Vorspann künftigen ewigen Lebens und einen kleinen Unfall auf dem Weg dorthin, eine Art Impfnarbe der Seele begreift – so das Christentum – oder seine auslöschende Notwendigkeit für jenseits aller Erörterung erklärt, für eine Finsternis, die so dicht ist, dass auch der forschendste Blick sich niemals akkomodieren und nie den kleinsten Anhalt finden wird. Er soll so klein sein, dass er nicht der Rede wert ist, oder so übergroß, dass es die Rede verschlägt.“ (S.122)

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