Stephen King. Das Wunder, das Böse und der Tod. Klett-Cotta, Stuttgart 1998. Daraus das Kapitel ´Todeströstungen´ , S.124-130.
Mit dem Leben ist der Tod nicht notwendig mitgesetzt. „Kein Lebewesen hat mit seinem bloßen Vorhandensein bereits in den Tod gewilligt, den man sich demnach vorzustellen hätte wie das Kleingedruckte eines arglistigen Vertrags. (`Du sagtest leben laut und sterben leise´, heißt es bei Rilke von Gott, der dabei die Züge eines unseriösen Staubsaugervertreters annimmt.) Die Tiere mindestens, als Unmündige, wären dann Betrogene; und auch die Menschen, die ja keine Wahl haben, bzw. nur die eine, zynische, das Leben, dessen Klausel ihnen nicht zusagt, auszuschlagen, indem sie die Klausel zu vorgezogener Anwendung bringen.“ (S.124) Daraus, dass etwas so heikles wie ein Lebewesen besonderer Gefährdung ausgesetzt ist, folgt nicht die Ausnahmslosigkeit seiner Zerstörung – „es kann jederzeit gekündigt werden, darin besteht sein Wesen, aber es muß nicht“. Siehe Einzeller! Das Leben selbst kann nicht zulängliche Ursache des Todes der Lebewesen sein. Daran bleibt festzuhalten gegen die weithin metaphorischen Tröstungsversuche, z.B. in der Metapher vom Lebenslicht. Dabei wird aus der Stetigkeit des individuellen Stoffwechsel dessen Endlichkeit deduziert. Leben scheint wie das Feuer: scheinbar stillstehend, verbraucht es einen mitgebrachten Vorrat auf. Wer stirbt, soll den Tod als das Seinige erkennen, meinen Freud und Rilke (bei Rilke reift der Tod wie eine Frucht den Männern in der Brust, den Frauen im Schoß). „Sowohl Rilke als auch Freud, jeder auf seine Weise, singen dem Leben ein Schlaflied, wie einem kleinen Kind, das man säuselnd überreden will, wie müde es in Wirklichkeit ja schon wäre. Es ist die dürftigste der abendländischen Todesbeschwichtigungen.
Eine zweite Todeströstung hat einen größeren Stoffwechsel im Blick. In dessen Phasen hat das individuelle Dasein seine Grenzen. Das Leben schlechthin dauert aber über den Tod den Einzelnen hinaus fort. Der lebt gewissermaßen in seinen Nachkommen weiter oder in seiner Gattung. - Blicken wir auf Schopenhauer. Er „hat zwar, wie Darwin, die Vorstellung eines größeren Ganzen, das die Individuen hinterfängt, nur dass es sich bei ihm nicht implizit um das Leben, sondern explizit und in noch größerem Maßstab, dem auch das Leben sich einfügt, um den Willen handelt, der kontinuierlich von den Steinen hinaufzieht bis zum Genie.“
Darwins Schrift über die Entstehung der Arten erschien 1859 in London. Schopenhauer starb 1860. Er hätte sich mit Entschiedenheit gegen Darwins Verzeitlichung der Natur zur Wehr gesetzt. Er beharrte auf der Idee der Spezies, der Spezies als platonischer Idee, als ewiges Urbild. Sogar vor der menschlichen Historizität verschließt er die Augen. Individuen sind bloße Vorläufer ihrer Nachfolger, Mittel zum Weitermachen des Willens. Zwar hat Schopenhauer, indem er das Leiden ins Zentrum seiner Weltbetrachtung rückt, das Individuum zur entscheidenden Kategorie erhoben (es ist das was leidet, genießt und sich langweilt). Aber so ausnahmslos und allgemein sieht er das Leiden, dass ihm die Grenzen verschwimmen, das rein individuelle Substrat des Leidens ihm abhandenkommt. „Wenn Schopenhauer schließlich, mit Blick auf den Tod und die Toten, tröstet: ´Wir sind noch alle beisammen´ (WWV II, Kap.41; Sämtl. Werke WB II/612) und zum Beleg die Katze anführt (II/616), die, egal wie viele Jahre ins Land gehen, immer nur dieselbe sei, wie sie da am Fenster liegt: denn sieht sie uns nicht an mit genau derselben Trägheit und Spannung wie ihre Urgroßmutter, an die wir uns noch gut erinnern? – dann wird er seiner eigenen Einsicht in das Leiden untreu, das die Individuen in ihren Häuten gnadenlos voneinander scheidet. Als Till Eulenspiegel in einer Schenke von einem Haufen betrunkener Bauern gebeten wurde, ihnen zu helfen, sie fänden ihre Beine nicht mehr auseinander – nahm er einen Knüppel, fuhr damit in das Knäuel, und sofort war für Klarheit gesorgt. So (wie der Knüppel) funktioniert Schopenahuers Leiden in praxi, es stiftet keine Gemeinschaft, im Gegenteil, und schon gar nicht hilft es über den Tod hinweg, sondern wird in seiner Einsamkeit von ihm gekrönt.“ (S.130)
1. Welt als Wille und Vorstellung I , §29 und Welt als Wille und Vorstellung II, Kapitel 28 ´Charakteristik des Willens zum Leben´ und 2. Welt als Wille und Vorstellung I, § 68 und Welt als Wille und Vorstellung II, Kapitel 48 ´Zur Lehre von der Verneinung des Willens zum Leben´.
Am Ende des zweiten Buches von Welt als Wille und Vorstellung I, in §29, heißt es: „Diese Welt, in der wir leben und sind, (ist) ihrem ganzen Wesen nach durch und durch Wille und zugleich durch und durch Vorstellung“: mein Wille und meine Vorstellung! „Jeder findet sich selbst als diesen Willen, in welchem das innere Wesen der Welt besteht, so, wie er sich auch als das erkennende Subjekt findet, dessen Vorstellung die ganze Welt ist, welche insofern nur in bezug auf sein Bewusstsein als ihren notwendigen Träger ein Dasein hat. Jeder ist also in diesem doppelten Betracht die ganze Welt selbst.“
Wille entspricht dem, was Burkhard Müller Das Leben nennt. Individualität ist bei Schopenhauer Schein (den Vorstellungsformen Raum, Zeit, Kausalität verdankt).
Schopenhauer (in §29 von WWV I): Der Wille ist außerhalb von Raum, Zeit, Kausalität (wie Kants Ding an sich). Deshalb lässt sich für ihn kein Grund (Motiv) angeben, ebenso wenig von der Idee (einer Tierspecies z.B.) , in der er sich adäquat objektiviert. Aber er lässt sich charakterisieren.
Weltseele sollte man nicht dazu sagen. Der Wille ist keine individuelle Bewusstseinseinheit. Auch Gott ist der falsche Ausdruck. Die Welt ist keine Theophanie. Man sehe nur auf das Fressen und Gefressenwerden der Wesen, deren allgemeines Los der Tod ist. Mit Aristoteles: die Natur ist dämonisch, aber nicht göttlich. Wille zum Leben ist die rechte Bezeichnung des innersten Wesens der Welt. Wille zum Leben ist „das allerrealste, was wir kennen, der Kern aller Realität.“ (WWV II, Kap.28) „Das Individuum ... hat für die Natur nur einen indirekten Wert, nämlich nur sofern das Mittel ist, die Gattung zu erhalten.“ Und wozu die Gattung? Der Natur scheint nur daran gelegen, „dass von allen ihren (Platonischen) Ideen, d.i. permanenten Formen keine verloren gehen möge.“ So sieht es aus, wenn wir die Natur von außen, objektiv, betrachten.
Schopenhauer sieht in den Arten platonische Ideen, ´ewige´ Urbilder. Artenwandel und Artentstehung kennt er nicht. - Übrigens: Die meisten Arten von Vielzellern sind Insektenarten: ca. (geschätzt) 9 000 000 (1 000 000 bisher nachgewiesen), Pilze kommen in ca. 1 500 000 Arten vor, Mikrobenarten gibt es 1 000 000, für Algen, Fadenwürmer, Viren gibt es jeweils ca. 400 000 Arten, 320 000 Planzenarten, 200 000 Weichtierarten und 200 000 Einzellerarten, 35 000 Fischarten, 9000 Vogelarten, 8000 Kriechtierarten, 4800 Säugetierarten, 4700 Amphibienarten, Sonstige: 250 000 Arten. Vögel, Kriechtiere, Amphibien und Säuger haben zusammen maximal (geschätzte) 27 000 Arten (entdeckt bzw. nachgewiesen 26 000). Verhältnis zu den Insektenarten 1:400. – Information aus Spektrum der Wissenschaft, Januar 2002, S.67; vgl. auch Die Zeit Nr.1 , 27.Dez. 2001, S.33. 1,7 Mill. Bekannte Spezies, geschätzte 2 bis 10 Mill.)
Wir können aber auch ins Innere der Natur sehen, meint Schopenhauer. Das ist nämlich nichts anderes, als in unser eigenes Inneres zu sehen. Hier zeigt sich der Wille als etwas von der „Vorstellung, in der die Natur, zu allen ihren Ideen entfaltet, dastand“ ganz Verschiedenes. Als ein Subjektives, und zwar als Hang aller Tiere und Menschen, das Leben zu erhalten und möglichst lange fortzusetzen.
Was kommt bei dem rastlosen Streben der Tiere heraus? „Die Mannigfaltigkeit der Organisationen, die Künstlichkeit der Mittel“ kontrastiert mit dem Mangel irgendeines haltbaren Endzweckes. Was kommt heraus? Vielleicht zuweilen Befriedigung des Hungers und Begattungstriebes, ein wenig augenblickliches Behagen zwischen endloser Not und Anstrengung. „Wozu die ganze Greuelszene? Darauf ist die alleinige Antwort: so objektiviert sich der Wille zum Leben.“ (Kap.28)
Beim Menschen ist es nicht viel anders. Was ist der letzte Zweck von allem? „Ephemere und geplagte Individuen eine kurze Spanne Zeit hindurch zu erhalten, im glücklichsten Fall mit erträglicher Not und komparativer Schmerzlosigkeit, der aber auch sogleich die Langeweile aufpasst, sodann die Fortpflanzung dieses Geschlechts und seines Treibens.“ (Sämtl. Werke, WB Darmstadt 1961, Bd. II, S. 462) Ein blinder Drang, ein völlig grundloser, unmotivierter Trieb steckt in diesen Figuren. Ihre Bewegungen erfolgen vermöge eines Urwerkes in ihrem Innern. Dieses ist der Wille zum Leben. Jeder Willensakt hat ein Motiv, nicht der Wille überhaupt. Der Wille zum Leben ist nicht eine Folge der Erkenntnis des Lebens, keine Konklusion, keine Schluss, sondern das Erste und Unbedingte, die Prämisse aller Prämissen. Er findet sich nicht infolge der Welt ein, sondern die Welt findet sich infolge des Willens zum Leben ein.
„Des Menschen größte Schuld ist, dass er geboren ward“ (Calderon). „Infolge dieser Schuld, die daher von seinem Willen ausgegangen sein muß, bleibt der Mensch mit Recht, auch wenn er alle Tugenden ausgeübt hat, dem physischen und geistigen Leiden preisgegeben, ist also nicht glücklich.“
Ich bin schuld daran, dass ich da bin. D.h. der Wille zum Leben, als den ich meine Innerstes finde, ist Ursache meines Daseins (welches wesentlich Leiden ist). „Solange unser Wille derselbe ist, kann unsere Welt keine andere sein.“ Wir wünschen alle, „erlöst zu werden aus dem Zustand des Leidens und des Todes“. Durch den Lauf der Natur geht das aber nicht.
„Wenn wir den Willen zum Leben im ganzen objektiv betrachten; so haben wir dem Gesagten gemäß ihn uns zu denken als in einem Wahn begriffen, von welchem zurückzukommen, also sein ganzes vorhandenes Streben zu verneinen das ist, was die Religionen als die Selbstverleugnung, abnegatio sui ipsius, bezeichnen.“ (S.776)
„Freiwillige vollkommene Keuschheit ist der erste Schritt in der Askese oder der Verneinung des Willens zum Leben. Sie verneint dadurch die über das individuelle Leben hinausgehende Bejahung des Willens und gibt damit die Anzeige, dass mit dem Leben dieses Leibes auch der Wille, dessen Erscheinung er ist, sich aufhebt. Die Natur, wie immer wahr und naiv, sagt aus, dass, wenn diese Maxime allgemein würde, das Menschengeschlecht ausstürbe: und .... ich glaube annehmen zu können, dass mit der höchsten Willenserscheinung auch der schwächere Widerschein derselben, die Tierheit, wegfallen würde. ... Mit gänzlicher Aufhebung der Erkenntnis schwände dann auch von selbst die übrige Welt in nichts; da ohne Subjekt kein Objekt. ... die übrige Natur hat ihre Erlösung vom Menschen zu erwarten, welcher Priester und Opfer zugleich ist.“ (WWV I, §68; Werke Bd. I , S.517). “Unter … Askesis verstehe ich im engeren Sinne diese vorsätzliche Brechung des Willens durch Versagung des Angenehmen und Aufsuchen des Unangenehmen, die selbstgewählte büßende Lebensart und Selbstkasteiung zur anhaltenden Mortifikation des Willens.” (S.532)
Die Schlusssätze von WWV I (a.a.O. , S.558) lauten: „Wir bekennen es vielmehr frei: was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle die, welche noch des Willens voll sind, allerdings nichts. Aber auch umgekehrt ist denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit alle ihren Sonnen und Milchstraßen – nichts.“