Materialien 8

Burkhard Müller, Das Glück der Tiere, S.268 ff : Über Unsterblichkeit.

Sterblichkeit ist das Los aller vielzelligen Tiere. Warum? Wäre Dem Leben nicht auch so gedient, dass die jetzt lebenden Individuen unbeschränkt weiter lebten? Dass die Alten abtreten müssen, um den Neugeborenen Platz zu machen, ist nur plausibel unter der Voraussetzung, dass das Karussell des Wechsels schon in Schwung ist. Wovon ist es angeschoben worden? – Ist es vielleicht so, dass Das Leben nicht zum Vorschein käme, wenn es nicht tötete? Erscheint es nur  in der Differenz seiner Dauer zur Nicht-Dauer der Lebewesen? Kommt es Dem Leben auf die große Zahl der Lebenden an, die immer auch sterben müssen, um erst auf die Dauer, in der Zeit, im engen räumlichen Rahmen der Erde,  die große Zahl zu erbringen? Wäre es so, das Leben wäre unser unversöhnlicher Feind.

Warum musste aus der einzelnen Zelle ein Verbund von vielen Zellen hervorgehen, der sich durch ein einhelliges Bewusstsein als ein primärer Zweck beglaubigt? Ist die Vielzelligkeit die List Des Lebens, um endlich den Tod zu verhängen? Der Tod der Vielzeller vollstreckt sich in der Sterblichkeit seiner kleinsten funktionellen Teile. Die Zellen hören irgendwann auf, sie zu teilen. Die Haut z.B. regeneriert sich nicht mehr. (Vgl. Reimara Rössler / Peter E. Kloeden: Das Thanatos-Prinzip. Biologische Grundlagen des Alterns. C.H. Beck, München 1997. Darin Hypothese von der Altersuhr mit dem Uhrzeiger Melatonin.)

Gegen den primären Charakter der Individualität könnten drei Einwände gemacht werden: Konjunktion (zeitweilige Verbindung zwischen  Einzellern zwecks Austausch von Erbmaterial, also Eingriff in die Individualität. Diese scheint bei Einzellern nicht so klar konturiert.), Pflanzen (die in ihrer Individualität über Wurzelstöcke, Rizomen und Myzelen mit ihresgleichen und der Landschaft verschwimmen), die Viren (nicht so sehr ein Zweifelsfall der Individuation als getreues Abbild Des Lebens. Die aktive Form geht unkenntlich im Stoffkreislauf des größeren Wirtes auf. Die inaktive ist wie ein Kristall.)

Aber die Tiere, sie sind Individuen. Und d.h. nun: Jedes Tier hat ein Recht auf Unsterblichkeit! Die individuelle Unsterblichkeit ist das große Projekt der Neuzeit, erst die Verlängerung, dann die Verunendlichung des menschlichen Lebens. (Unsterblichkeits-Einübung in Filmen. Die gummiartige Unverwundbarkeit der Akteure der Zeichentrickfilme wurde auf Menschen übertragen. Der animierte Film hat für seine Figuren ein Reservat der Todlosigkeit geschaffen.)

Warum gesteht es sich die Gegenwart nur so widerwillig eine, dass sie der Unsterblichkeit ihrer Individuen zu strebt? (S.278) Weil dieser Idee auch ein tödlicher Schrecken innewohnt? Leben – wie die Ehe in Fortsetzung der Liebe – für immer! Wie wäre das?

Unsterblichkeit: umsonst wird sie nicht zu haben sein. Leisten könnten sich die erst einmal nur die Reichen. Vorenthaltende Unsterblichkeit bei den Armen. Das wird die Gesellschaft zerreißen. Die Unsterblichen werden die Sterblichen nicht mehr neben sich dulden, denn sie werden ihnen die Fähigkeit zur Verantwortung für die Welt absprechen. Fortpflanzung wird man sich nicht mehr leisten können. Wird man sich noch verlieben können? Wird die Geschlechtlichkeit womöglich auch abgeschafft?

Vielleicht werden allein die Tiere, weil sie die Gabe der Unsterblichkeit nicht zu schätzen wissen, diese unbeschädigt ertragen.

Das Leben würde es nicht widerstandslos hinnehmen, dass es nun, ohne das Totmachen der Individuen, in die Unerkennbarkeit verwunschen wird wie einst bei den Einzellern.

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