Materialien 7

Einiges aus den zwei letzten Kapiteln vom Burkhard Müllers Das Glück der Tiere.

(1) Das Kapitel „Wer lebt“ ist eine Meditation über Darwins Satz „Der Mensch wählt nur zu seinem Vorteil aus, die Natur nur zum Besten des Geschöpfes selbst.“ (Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um´s Dasein, Parkland Verlag S.101, oder Stuttgart 1989, S.125). Der Satz davor bei Darwin lautet: „Der Mensch kann nur auf äußerliche und sichtbare Charaktere wirken... Die Natur... kann auf jedes innere Organ, auf die ganze Maschinerie des Lebens wirken.“ Später heißt es: „Wie flüchtig sind die Wünsche und Anstrengungen des Menschen! Wie kurz ist seine Zeit! Wie dürftig werden mithin seine Resultate denjenigen gegenüber sein, welche die Natur im Verlaufe ganzer geologischer Perioden angehäuft hat.“ Von der künstlichen Zuchtwahl durch den Menschen will Darwin zur natürlichen Zuchtwahl gelangen, indem das Tier gleichsam das Gehege des Züchters verlässt und sich gewissermaßen in freier Natur dieser Natur als Züchterin überlässt. Wählte der Mensch zu seinem Vorteil aus, wenn er z.B. nur die fleischreichsten Bullen mit den milchproduktivsten Kühen paarte, so soll nun die Natur zum Besten des Geschöpfes auswählen. Nicht etwa wählt das dem Gehege entkommene Geschöpf selbst, vielmehr wird es jetzt ganz und gar Objekt einer Verfügung von außen. Das Verfügende sei die Natur.

Aber  Fast überall im Kosmos ist die Natur tot. Auf dem Mond ´handelt´ die Natur etwa nach dem Grundsatz, was liegt, liegt, also gar nicht. Auf der Erde gibt es anscheinend eine lebendige Filiale der Natur. Nennen wir sie Das Leben. Das Leben wählt, d.h. selektiert. Einziges Regulativ: die Kopfzahl, der Fortpflanzungserfolg. Das heißt, allegorisch gedacht, dass der Schiedsrichter dieses Spiels sich das Getue der gelben Karte spart und gleich mit der roten das Individuum vom Feld der Fortpflanzung weist. Am liebsten nimmt er die schwarze: standrechtliche Exekution auf dem Platz. Wie soll dies Wählen „zum Besten des Geschöpfs“ sein?

Mit Geschöpf kann Darwin wohl nicht das Individuum gemeint haben, sondern eine Gesamtheit, eine reale. Er meint vielleicht die Art (Species)? Aber ändert sich diese nicht gerade durch die Zuchtwahl? Das Beste wird sehr oft bedeuten, dass die Art eben nicht bleibt, was sie ist, sondern in eine andere übergeht, d.h. auch untergeht. Was bleibt übrig? Wohl nur dies: Das Leben wählt zum Besten Des Lebens.

Lebendigkeit und Das Leben sind einander inkommensurabel. Das Einzelne ist nur der Kraftstoff, der verheizt wird, um die Evolution am Brennen zu halten. Lebendigkeit ist nur ein Mittel, Zweck ist Das Leben. Der Ertrag der Evolutionstheorie sackt zusammen in die Tautologie: Das Leben hat statt zum Besten des Lebens. So wie bei Schopenhauer der Wille will.

Die Evolution setzt immer am Individuum an. Was nicht schon lebendig ist, kann nicht selektiert werden. Niemals kann darum ein Totes durch die Evolution sich beleben. Das Leben ist von anderen Bezirken der Natur hermetisch abgeriegelt, denn die Selektion ist das einzige Mittel, über das Das Leben verfügt. Die Selektion setzt das Individuum als vollendete Tatsache voraus wie der Räuber seine Beute.

Zwei neuere Varianten der Evolutionstheorie versuchen, den tautologischen Charakter der Evolutionstheorie zu brechen, idem sie nicht Das Leben sondern entweder das Gen (bei R.Dawkins, Das egoistische Gen)  oder die Erde (Gaia-Hypothese von Lovelock, Margulis/Sagan) überleben bzw. bei der natürlichen Zuchtwahl gewinnen lassen.

(a) Bei Dawkins ist das Tier eine Überlebensmaschine. Was überlebt, steckt in dieser Maschine drin. Das Genom? Nicht ganz. Nur die Hälfte des Erbgutes geht ans Kind weiter. Der Urenkel hat nur noch ein Achtel. Aber er hat Gene von den Vorfahren. Gene überleben. Dem tierischen Individuum als selektierbarem Gesamtpaket stellt Dawkins also das Gen-Individuum als Zweck seiner selbst entgegen: das egoistische Gen.

Allerdings ist es mit Ohnmacht geschlagen. Mit vielen seinesgleichen sitzt ein Gen im selben Boot, im Individuum, bleibt dort, bis der Kahn absäuft. Das Gen kommt zudem in jeder Körperzelle als identisches Replikat seiner selbst vor. Es ist dort stets ein Teil eines Chromosoms. Da man nicht sagen kann, wo ein Gen aufhört und das nächste anfängt, spricht Dawkins vom Cistron als der bei der Fortpflanzung zur Gänze weitergebenen Einheit. Aber es kann beim Crossing-over der DNS-Strang an so ziemlich jeder Stelle gekappt werden. Ein Cistron wird an seinem Ende womöglich ein Gen mitten durch schneiden. Dawkins (Das egoistische Gen, Reinbek 1996, S.64): „Je kürzer eine genetische Einheit, desto länger – in Generationen gemessen – wird sie wahrscheinlich leben. Und umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie bei irgendeinem Crossing-over aufgespalten wird.“ Dann ist aber das Gen ist schon untergegangen. Es gibt hier überhaupt nichts mehr, was eine Gestalt und ein Interesse hat, beisammen zu bleiben, sondern lediglich zufällige Stückelungen. Am erfolgreichsten wird das einzelne Nukleotid oder Triplett aus Nukleotiden sein, das unter Garantie nicht von sich selbst abgetrennt werden kann. Dass es lebt, wäre allerdings ein bisschen viel gesagt.

Im Kleinsten also kann das, dem zum Besten gelebt würde, für die Wissenschaft nicht gefunden werden. Also vielleicht im Größten.

(b) Die Gaia-Hypothese (benannt nach der griechischen Erdgöttin) versucht, jenes von Margulis/Sagan aufgedeckte synergetische Verhältnis von Zellbaustein (Mitochondrien) und Zelle sowie von Zelle und vielzelligem Organismus auf die Stellung jedes Einzelnen von uns zu der blauen Kugel Erde zu übertragen, auf deren Oberfläche alles Lebendige unentrinnbar zu Hause ist. „Jeder Atemzug verbindet uns mit der übrigen Biosphäre, die ebenfalls ´atmet´, wenn auch in einem anderen, langsameren Rhythmus“, schreiben Margulis / Sagan (in Leben. Vom Ursprung zur Vielfalt, Berlin 1997, S.28). Natürlich atmet die Erde nicht, nur in Gänsefüßchen. Leben tut sie auch nicht. Aber Margulis /Sagan sehen es so. Wir gehören alle einem einzigen Urgrund an, Brahman. Das Einzelbewusstsein ist eine Illusion (wie die Veden schon lehren). „Tod ist im eigentlichen Sinne eine Täuschung. Als bloße Fortsetzung der Biochemie sind ´wir´ in den letzten drei Milliarden Jahren nicht gestorben.“ (a.a.O. S.62) Gaia lebt. Wir leben in ihr. (Vgl. James Lovelock: Unsere Erde wird überleben: Gaia – eine optimistische Ökologie, Münchedn: Piper 1982)

Müller (S.258) : Die Evolutionstheorie kommt von der ihr inhärenten Gewalt nicht los. ... Dawkins hat ihr in maskuliner Brutalität zur hervorbrechenden Kenntlichkeit verholfen. Margulis / Sagan verbergen sie wie ein Wickelkind unter Hüllen und Kissen: Sie ist bei alledem immer da und herrscht.“

(2) Aus dem Kapitel ´Thesen zur Unsterblichkeit´: (a) Das Individuum und Das Leben (S. 261 ff) und (b) Das Projekt der Unsterblichkeit (S. 268 ff)

(a) Das Individuum lebt. Aber noch etwas anderes treibt in ihm sein Wesen. Unverkennbar spricht es aus dem Fortpflanzungstrieb und seinen voneinander so verschiednen, nur durch die unterirdisch gemeinschaftliche Wurzel desselben Ziels verbundene Sprossen, der Sexualität und Brutpflege. Nur diese sind eigentlich Triebe. Bedürfnisse wie Schmerzfreiheit, Nahrung und Atemluft beziehen sich nur aufs Individuum und kommen in ihm zur Ruhe. Von der hohen Not und tiefen Befriedigung, die Geschlecht und Aufzucht der Jungen ihm bereiten, wird das Tier wie von einer fremden Vibration berührt. Ein höhnisches Paradox ist es, dass in dem, was man mit Gewissheit als den eigenen Willen erkennt, sich die Absichten eines Anderen betätigen. Eines dunklen Zweiten. Das Leben. Zwei Zwecke stehen hier einander unversöhnlich gegenüber: der eine (beim Individuum) in der Fähigkeit, glücklich zu sein und zu leiden, der andere (beim Leben) in der Macht, zu töten. Müller: „Ich bin davon überzeugt, dass das Individuum und Das Leben beide primäre und d.h. metaphysische Realitäten sind. Das bedeutet nicht, dass sich beide gleichzeitig manifestieren müssten.“ (S.262)

„In den Einzellern nistet das Leben noch unbefreit und ohne die Möglichkeit, seine Absichten zu erklären.“ (S.265) „Mit der Vielzelligkeit hat Das Leben eine Möglichkeit gefunden, sich von den Individuen zu emanzipieren.“ (S.267)

Auf der Stufe der Einzeller gibt es keine andere Methode, wie Lebendiges sich erhalten ließe, als dass die je einzelne Zelle sich erhält. Bei den Vielzellern zieht sich das im Verhältnis unermessliche Reich des Leibes in die Winzigkeit der Geschlechtszelle zusammen – gleichsam als die Botschaft, die, mit der Botschaft eines anderen gepaart, Grundstock eines neuen, dritten Wesens wird.

(Zwischen Einzellern und Vielzellern liegen keine Zwei-, Dreizeller. Aber Eukarioten sind so etwas wie einzellige Vielzeller: die versammeln in einer Zellhülle viele Einzeller, z.B. die Mitochondrien. – Mesozoen und Schwammtiere sind vielzellige Gebilde. Ein Mesozoon ist z.B.  ein o,o5 mm langer Schlauch mit Fortpflanzungszellen im Innern. Schwammtiere pflanzen sich durch Geschlechtszellen (Larven) und Knospen fort.)

Auf der Stufe der Einzeller gibt es keinen Phasenwechsel, keine Trennung von Keimbahn (Botschaft in Einzellern, d.h. in Samenzelle und Eizelle) und Soma (vielzelliger Körper), nicht den Staffellauf. Nur die unendliche Langstrecke des Überlebens. Der Tod der Einzeller ist akzidentell (ungünstigen Umständen geschuldet), niemals Prinzip. Alle Fortpflanzung ist Teilung, ohne Unterscheidung von Generationen. Die Teilungsprodukte sind identisch mit einander, mit jeder vergangenen Generation. Jede Amöbe ist zugleich ihr ältester Ahn. „Das die Einzeller niemals den Rand ihrer Zelle überschritten haben, ist auch der Wechsel ihrer Generationen niemals von ihrem Stoffwechsel abgetrennt worden; sie sind ewig.“ (Müller, S.264) Dennoch werden sich zwei (aus einer Teilung hervorgehende) identische Protozoen, wo sie auf den selben Brocken (Nahrung) stoßen, bis zur gegenseitigen Vernichtung feindselig verhalten. D.h. Sie sind individuell hinsichtlich ihres Zwecks, identisch hinsichtlich ihres Ursprungs.

Beim Einzeller fallen die kleinste mögliche Einheit des Lebendigen und die größtmögliche zusammen. Bei den vielzelligen Lebensformen nicht. Hier ist ein Massenwechsel innerhalb des Lebendigen, wobei je nach Praktikabilität abwechselnd die einzelne Zelle (Fortpflanzungszelle, Botschaft) oder der große Verbund mobilisiert werden. Die weitergegebene Form wird ablösbar vom Individuum. Form und Individualität, in Einzellern noch sorglos ineinander, werden auseinander gejagt. Das Tier, überlistet, seine Geschlechtszellen abzugeben, steht zu diesen in einem eindeutigen Abstammungsverhältnis. Als Geschwister kann man sie kaum ansehen, so klein, unselbständig und transitorisch sind sie. Eine eigenständige Manifestation des Lebendigen sind sie nicht. „Es läuft ein Faden durch ihr Nadelöhr, heimtückisch dünn, immer weiter; aber die ausgewachsenen Kamele bleiben darin hängen und verenden.“ (S.265)

Aber nicht einmal der Bauplan bleibt. Er verändert sich. Die Art (Species) ist kein festes, sie wandelt sich, stirbt gewissermaßen in neue Arten hinein (Wobei der Artwandel nicht auf darwinistischem Weg geschehen muss.) Die Art ist kein Mittleres mehr zwischen dem Individuum und der größten denkbaren Gesamtheit alles dessen, was jemals gelebt hat, lebt und leben wird. Also bleibt nur Das Leben als das, was nun wahrhaft lebt, da die Individuen sterben. „Aber auch das stimmt ja nicht. Jedes Individuum, auch wenn es dermaleinst sterben muss, weiß, dass es lebt und dies für sich selbst tut. Und dennoch steht es unter der Fuchtel dessen, was sich nicht an ihm, sondern durch es bewahrt. Das Leben lebt nicht, es lässt leben. Es ist der zweite feindliche Zweck, den aufgesattelt jedes Wesen mit sich schleppt, das nur selbst seines Weges gehen will. ... Wir sind einem Anderen, was Speise uns ist. Zu seinem Entsetzen muss jeder, der in einen Spiegel sieht, gewahren, dass das Eigenste, das ihm da entgegenblickt, sein Gesicht, nur einem Fremden Trittstufe ist, ja weniger: dass die scheinbar unverwechselbaren Züge sich nur wie dessen Fußspuren im Sand abzeichnen.“ (S. 267)

Mit der Vielzelligkeit hat Das Leben sich vom Individuum emanzipieren können. Um sich die schiere Kontinuität besorgen zu lassen, hätte Das Leben eigentlich nur den einzelligen Organismus gebraucht. Aber in ihm hatte es als Zweck seiner selbst noch keine Deutlichkeit gewonnen. Es saß in diesen engen Kammern fest und eingenistet wie ein Krankheitskeim in einem gesunden Körper, unerkennbar. Indem Das Leben aber die Individuen zum Tod verurteilte, wurde es kenntlich als Schöpfung eigenen Ranges, oder besser, da der Name der Schöpfung auf einen Schöpfer hinzuweisen scheint, als autonomes Wunder.“ (S.267)

Drei Wunder oder Schöpfungen lassen sich ansetzen: Die Materie, auf die das Nichts wahrlich herzlich hätte verzichten können, das Individuum, auf das die Materie ebenso hätte verzichten können, und das Leben, auf das die Individuen gern hätten verzichten können. Jedes setzt sich nur auf den Rücken des anderen und macht es zum Niederen: Das Leben auf das Individuum, dieses auf die Materie, und die Materie auf das Nichts. (Vgl. S.268)

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