Wir erfahren heute, was hinter Nietzsches "fröhlicher Wissenschaft" und "Erkenntnis", insbesondere der "Leidenschaft der Erkenntnis" steckt. Der Nietzsche-Forscher Brusotti, der darüber ein ganzes 700-seitiges ahnungsloses Buch geschrieben hat, ist nicht dahinter gekommen. Vgl. Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin 1997. War er nicht Nietzsches 'Freund'? – Folgende Interpretation ist, so würde 'die Nietzsche-Forschung' sagen, abwegig. Aber es sind Nietzsches eigene Abwege, die wir begehen.
Aphorismus Nr. 195 besteht größtenteils aus Ausrufungen, Fragen, verkürzten Sätzen. Tenor ist Anklage, nämliche diese: Unsere Jugend wurde vergeudet. Unsere Erzieher haben uns nicht der "Erkenntnis der Dinge" entgegen geführt. In unserer "classischen Erziehung" fehlte das Nachdenken über Moral, fehlten deren Kritik. Erst recht fehlten mutigen Versuche, verschiedene Moralen zu leben. Es fehlte die Einübung in eine klassische Tugend, so wie die Alten (die Griechen) sie übten. Man erregte in uns nicht ein Gefühl, das den Alten höher galt als den Neueren, z.B. nicht (siehe Nr. 170) "die andere Perspektive des Gefühls ... – die Leidenschaft für die männliche nackte Schönheit". Das antike Wissen wurde uns nicht zugänglich. Hinter den Worten und Begriffen, mit denen man von den Alten redete, liegt eine Empfindung versteckt, die uns heute peinlich sein müsste. Wir bekamen dadurch einen Widerwillen gegen das Altertum. Das "ist nicht wieder gut zu machen – an uns!". An uns, denn bei anderen ist es wohl nicht so schlimm!
Das also ist die Vergeudung unserer Jugend: Wir bekamen "classische Bildung" anstattt "Erkenntnis der Dinge". Unser Schicksal ist es nämlich, in einer Zeit oder Gesellschaft zu leben, in der man für jene andere Perspektive des Gefühls kein Verständnis hat. Auch wenn wir nicht wollten, wir müssen dem Schicksal folgen. (Vgl. den von Nietzsche in Nr. 195 zitierten Spruch Epiktets bzw. den Satz des Kleanthes: Fata volentem docunt, nolentem trahunt = Den Willigen führt, den Widerstrebenden zieht das Schicksal.) – Soweit Nietzsche und seine (Leidens-)Gefährten damals, die er mit wir bezeichnet. Nun zu uns: wir heute! Auch uns (seine Leser) will Nietzsche zu sich heranziehen.
Wir sind um das Verständnis von Nietzsches verdeckten Subtext bemüht. Nietzsche will ja, laut Vorrede (Colli/Montinari Krit. Stud. Ausg. Bd. 3/17), den eiligen Leser (der wir nicht sind oder sein wollen) "zur Verzweiflung" bringen. Nietzsche möchte seine Botschaft nur "unter uns" sagen, so "dass alle Welt uns überhört". Er will (von uns) "gut", mit "zarten Fingern" und "Hintergedanken" gelesen werden.
Was den Terminus Erkenntnis betrifft, so sahen wir in Nr. 195: "Erkenntnis der Dinge" meint kritisches Nachdenken über Moral, meint den Versuch, alternative Moralen zu leben, (alternative) Gefühle oder Leidenschaften zu erregen. Aus Nr. 170 erfuhren wir, dass insbesondere jene päderastische Leidenschaft der Alten dafür in Frage kommt.
Das von Nietzsche beklagte Manko seiner Erziehung war also im Wesentlichen die fehlende sexuelle Aufklärung. Eine Bemerkung in Ecce homo geht in diese Richtung. Da klagt Nietzsche: "Die Unwissenheit in physiologicis ... ist das eigentliche Verhängnis in meinem Leben ...., etwas, für das es keine Gegenrechnung gibt" (6/283), was also nicht wieder gut zu machen ist. – Nun zum Heroismus der Erkenntnis in Nr. 45.
Dort bewegt ihn "der Gedanke der sich opfernden Menschheit", er könnte auch uns erheben, emporheben, zum absoluten Sieger machen, meint Nietzsche. Es gäbe nur ein einziges Ziel, dessentwegen die Menschheit geopfert werden, weswegen sie mit dem Leuchten einer vorwegnehmenden Weisheit im Auge sterben könnte, nur ein größtes Ziel gäbe es: "die Erkenntnis der Wahrheit". Was ist das nur? – Zunächst: Es ist noch Zukunftsmusik, meint Nietzsche. Erst nach jahrtausende langem Wissensaustausch von Stern zu Stern und Verbrüderung mit den Bewohnern anderer Sterne könnte die Begeisterung der Erkenntnis auf eine solche Fluthöhe kommen, dass die Menschheit untergeht. Es lohnt sich sogar, meint Nietzsche, dass sie daran untergeht.
In Nr. 146 meint er, durch das Opfer unserer selbst und der anderen würde das allgemeine Gefühl der menschlichen Macht gestärkt, würde Glück vermehrt. "Zuletzt, wenn dies sogar – doch hier kein Wort mehr! Ein Blick genügt, ihr habt mich verstanden." Nietzsche hält hier den Gedanken der Menschheitsopferung zurück. Wir merken ja – an seinem nach Grausamkeit schmachtenden Blick, was gemeint ist!
Erinnert sei an den kosmogonischen Eros (so ein Buchtitel von Ludwig Klages), wie ihn Platon im Phaidros beschreibt, an den "Gott der geflügelten Liebe". Von ihm bekommen die gefiederten Seelen, wenn sie an den Rand der Welt in den Himmel schauen, neue Nahrung und Spannkraft. Nicht vor zehntausend Jahren, sagt der Mythos, den Platon erzählt, kommen die Seelen zurück von da, wohin sie müssen; es sei denn, sie hätten "nicht unphilosophisch die Knaben geliebt".
Und es ist die Rede von der Folge für die Menschheit, für den Fall, dass alle sich so der sogenannten (der biblischen) Erkenntnis hingeben und sich erkennen wie wir, wie unsereiner, wie Nietzsche. Dann gibt es nämlich keine Kinder mehr und die Menschheit stirbt aus. Wir, Nietzsche und seine Brüder, erkennen sich ja nicht wie Adam die Eva, sondern wie ein Adam seinesgleichen (durch 'folgenlosen' Beischlaf).
In Nr. 96 heißen die sich so an einem Zeichen Erkennenden und zu erkennen Gebenden Atheisten, die sofort eine Macht in Europa bilden werden. In der Vorrede (S.16) spricht Nietzsche von ihnen als "wir Immoralisten, wir Gottlosen von heute", die sich auch nicht fürchten, sich (und die Menschheit) zu verneinen, weil sie es "mit Lust" tun. In Nr. 45 könnten sie, nach Jahrtausenden, mit ihrer Lust die gesamte Menschheit vernichten, d.h. zum Aussterben bringen.
In der Fröhlichen Wissenschaft Nr. 283 begrüßt Nietzsche ein neues, männliches und kriegerisches Zeitalter, das den "Heroismus in die Erkenntnis trägt", in dem man gefährlich lebt und in dem die "Erkennenden" herrschen werden, nachdem sie sich lange genug "gleich scheuen Hirschen in Wäldern versteckt" hielten. Nun outen sie sich. "Endlich wird die Erkenntnis die Hand nach dem ausstrecken, was ihr gebührt: – sie wird herrschen und besitzen wollen, und ihr mit ihr!" (3/527) In Fröhliche Wissenschaft Nr. 1 beschwört Nietzsche, nachdem er über die Nützlichkeit der vermeintlich Unnützigen, die nicht direkt mit der "Erhaltung der menschlichen Gattung" beschäftigt sind, spekuliert hat, das Gesetz von Ebbe und Flut und verheißt seinen Brüdern: "Auch wir haben unsere Zeit!" Bislang herrschten allerdings noch die anderen, und die Menschheit brauchte noch nicht geopfert werden. – Frohe Weihnachten!