Nr. 113: „Die Geschichte der Cultur“ ist (beinahe) die Reihe von Graden der heimlich begehrten „Überwältigung des Nächsten“ (S.102). Oder: sie ist (beinahe) die (Reihe der) Mittel, sich ein „Gefühl der Macht“ (beim Anblick von Martern, S.103) zu verschaffen (S.35). – Nr. 112: Die „Naturgeschichte“ (d.h. die Entwicklung der Natur) „von Pflicht und Recht“ ist die Reihe der Verschiebungen von Machtverhältnissen bzw. Machtgefühlen.
Bei der Überwältigung des Nächsten ist meine „Hand“ im Spiel: Unter ihrem Eindruck gibt der andere nach, verliert die Gewalt über sich, erleidet durch mich Gewalt, wird vergewaltigt (Nr. 113). – Bei der Bildung von Machtverhältnissen und von Macht-Balance ist auch die „Hand“ im Spiel: Der andere hat seine Hand in meiner Macht, er hat in sie eingegriffen. (Hat er die Hand an meinem Gemächte?) Meine Hand greift in die Macht des anderen (Nr. 112). Erst nimmt er von meiner, dann nehme ich von seiner Macht. (Sperma?)
Bei der Überwältigung des anderen geht es – über das Mitleid mit ihm als Selbsttyrannisierung – um „Wollüste der Macht“, um göttlichen Genuß (Nr. 113). Dafür stehen Ausnahmemenschen wie Paulus, Calvin, Dante mit ihrem schauerlichen Geheimnis der Lust an der Qual. – Bei den wechselweisen Handgriffen in die Macht, der Herstellung von Machtverhältnissen und Machtgleichgewichten, geht es um den eher biederen, den „billigen Menschen“, den gerechten aber auch minderwertigen Menschen, und um „Billiges“: „viel Übung, viel guten Willen und viel sehr guten Geist“ (Nr. 112).
In Nr. 113 finden wir Nietzsche als sich einfühlend in jene masochistischen Machtwollüstlinge, als Ausschweifenden. – In Nr. 112 finden wir Nietzsche eingefügt mit seinem Verhalten in Pflicht- und Rechtsbeziehungen: als billigen Menschen.
Nietzsche erklärt im ersten Satz: Unsere Pflichten (vor dem Zubettgehen die Zähne putzen, nicht lügen, nicht sich umbringen, nicht Hilfeleistung unterlassen, Vater und Mutter ehren, nicht töten, nicht begehren deines Nächsten Ochs, Magd, Esel usw. – oder an was sollen wir denken?) das seien die Rechte anderer auf uns. – Wer hat denn ein Recht auf mich? Meine Frau das Recht auf meine Erfüllung ehelicher Pflichten bei ihr? Oder gar, mich zu verspeisen? So wie ich ein Recht auf Rindfleisch habe? Der Vater ein Recht auf seine Töchter? – In Nietzsches Formulierung (Andere haben ein Recht auf uns!) klingt das an.
Wer sind diese anderen? – Nietzsche erklärt es im zweiten Satz: Es sind diejenigen, die uns erzogen, zurechtwiesen, unterstützten. Sie griffen dabei in unsere Macht ein. Dadurch haben wir Pflichten ihnen gegenüber. Und d.h. für Nietzsche: wir haben in ihre Macht einzugreifen. Wir übten damit Wiedervergeltung ihres Handgriffs in unsere Macht. Wir sollten uns also pflichtgemäß mit ihrer Macht befassen, weil sie sich mit der unsrigen befaßt haben durch ihr Erziehen, Zurechtweisen, Unterstützen. Sie taten das, so Nietzsche, im Vorgriff auf unsere Macht, mit der wir dann bei ihnen handgreiflich werden. Das ist unsere Pflicht. Mein Erzieher hat ein Recht auf mich: Ich muss mit meiner Hand in seine Macht eingreifen! – Was geht hier vor?
Ich erinnere an den Dichter Ortlepp, Erzieher, Vaterersatz, sexueller Erwecker des ca. 13-jährigen Fritz Nietzsche (vgl. mein Ecce Nietzsche, S. 28 ff). Oder an den hingebungsvollen Masochisten und leidenschaftlichen Selbstgeißeler Percy Graininger, Komponist und Virtuose 1882-1961. Er schrieb an seine deutsche Freundin, von der er sich Kinder wünschte, er würde die lieben Kinder, insbesondere Töchter, nicht schlagen, bis sie groß genug sind und verständig, dann würde er sie fragen, ob er sie schlagen dürfe, weil das ihm eine außerordentliche Freude wäre. Denn er hätte sie ja so gerne. Er habe schließlich hart für ihre Ernährung und Erziehung gearbeitet. Und Geschlechtsverkehr wolle er natürlich auch mit seinen Mädchen haben. Habe er nicht ein Recht auf sie? (Siehe bei Marx das Recht, die Früchte = proles der eigenen Arbeit zu genießen! Dazu mein Buch Kennen Sie Marx? Kritik der proletarischen Vernunft). Graininger an seine Freundin über seine zukünftigen Töchterlein: „Es muss wundervoll sein, die zarte, makellose Haut zu verletzen.“ (D. Weeks / J. James : Exzentriker. Über das Vergnügen, anders zu sein. Rowohlt 1997, S.265)
Nietzsche schreibt ab Mitte S.100 einen Text, der oberflächlich als eine Theorie von Pflicht und Macht durchgehen könnte. Gibt aber nichts her. Es gibt weder eine Erklärung dessen, was Recht und was Pflicht sein kann, keine Beispiele, an denen erläutert würde, wieso meine Pflicht immer ein Recht des Anderen auf mich ist. Und er schildert nur noch Beziehungen zwischen tatsächlich Gleichartigen, d.h. Erwachsenen, und nicht, wie zu Anfang, zwischen Älteren oder Eltern und ihren Zöglingen. Man überlege doch mal, was Nietzsches „Naturgeschichte von Pflicht und Recht“ über die Entstehung oder den Sinn der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten erklärt (welche also wohl gar nicht von Nietzsche wirklich gemeint sind). Nach Altersstufen haben wir z.B. folgende staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten: Recht auf Leben nach der Nidation, Schulpflicht ab 6, Recht auf Anhörung ab 10, Recht auf religiöse Selbstbestimmung ab 14, Sozialleistungsempfangsrecht ab 15, beschränkte Eides- und Ehefähigkeit, Recht auf Erwerb des Führerscheins, Pflicht zum Besitz des Personalausweises, aktives Wahlrecht ab 16, Wehrpflicht ab 18, Adoptionsrecht ab 25, Rentenansprüche ab 60, Altersgrenze für Beamte ab 65 (ohne Gewähr!, entnommen Mayers Universallexikon 1984). Der 'normale' Zusammenhang von Recht und Macht ist dieser: Die Befolgungs- und Durchsetzungschance für Rechtsnormen und Pflichterfüllung hängt ab von Organisationen, die bereit und in der Lage sind, die betreffenden Normen notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen. Bezeichnet man die Chance, menschliches Verhalten wirksam zu lenken, als Macht, so ist das Recht mit organisierter gesellschaftlicher Macht verbunden.
Interessant ist noch (kurz vor Schluss dieser Nummer 112) Nietzsches Bemerkung: Ist unsere Macht erschöpft, hören unsere Rechte (auf den anderen) auf. Sind wir dagegen viel potenter als der andere, hat der kein Recht mehr auf uns. Wer nichts zurückgeben kann, dem geben wir nichts an Machtsubstanz. Und wenn wir nichts (mehr) haben, braucht uns auch keiner was zu geben. Macht wird hin und her transportiert, verausgabt und empfangen. Im „feinen Tact einer Wage“. So ist es eben zwischen Gleichen (Gleichgeschlechtlichen). Billigerweise. Das ganz Besondere, die einseitige Überwältigung, das Quälen, das Mitleiden und die Wollust der Macht à la Calvin, Dante und Paulus, die gibt es erst in Nr. 113 als etwas teurere Ausschweifung.