Zunächst der Beschluss von Nr. 113: Es könnte möglich gewesen sein, dass Paulus, Dante, Calvin und ihresgleichen in die Wollüste der Macht eingedrungen sind, die darin bestehen, über sein Mitleiden zu triumphieren, indem man anderen wehe tut, um sich selbst wehe zu tun (d.h. mit zu leiden). (So entschuldigt sich der Sadist als Masochist bei seinem Opfer: „Wie weh tut es erst mir, dich so zu quälen?!“) Die Wollust ist göttlich und, wie Nietzsche meint, eine im alten Indien längst bekannte verruchte Verfeinerung des Selbstgenusses. Dort kennt man den Asket als Weltschöpfer: Vicvamitra konnte nach Jahrtausende währenden Bußübungen endlich einen neuen Himmel bauen. (Vgl. Nietzsches Aufruf zur Selbsterlösung nach dem indischen Vorbild in Nr. 76!). Entsprechend hat Nietzsche die Idee der Schöpfung als „asketische Prozedur“. Der Gott der Liebe, der Heiligkeit und Sündlosigkeit bannt sich in die leidende Welt als sein Selbst-Marter-Werkzeug, er tyrannisiert sich selbst durch das Mitleiden mit der von ihm geschaffenen leidenden Menschheit samt der verdammten Sünder in der „ungeheuren Stätte der ewigen Qual und des ewigen Stöhnens und Seufzens“. „Welcher Genuss“! „Unsägliches Glück beim Anblick von Martern“!
„Das Glück, als das lebendigste Gefühl der Macht“ ist in der Seele des „abergläubischen Asketen“ vielleicht am größten gewesen, meint Nietzsche, dann, wenn er über sich triumphiert. Sein nach innen gewendetes Augen sieht dann den Menschen zerspalten in einen leidenden und in einen zuschauenden (Voyeur). In die Außenwelt blickt er nur, um aus ihr Holz für seinen Scheiterhaufen zu sammeln, auf dem er dann in sich verkohlt. – Das ist der Abschluss der Tragödie des Triebes nach Auszeichnung. Wie fing sie an? (Jetzt gehen wir in den Beginn von Nr. 113.)
Da ist (m)ein Trieb und seine Befriedigung: der Trieb der Auszeichnung vor anderen mit Interesse an ihren Reaktionen auf den Eindruck, den z.B. (m)eine „Hand“ oder den (m)ein „Anblick“ macht, ob er nämlich die Gewalt über sich verliert, und diesem Eindruck z.B. der Hand nachgibt. (Was für einen gewaltsamen Eindruck macht denn die Hand?) Ich (oder Nietzsche, also der nach Anerkennung Strebende, der Streber Nietzsche in Schulpforta vielleicht) will die anderen dominieren, tyrannisieren, überwältigen. Die „Geschichte der Cultur ... von der... Barbarei an bis zur ... krankhaften Idealität“ deckt sich beinahe mit der Reihe von Graden dieser heimlich begehrten Überwältigung (oder in Nr. 20: mit der Reihe der Mittel, um das Gefühl der Macht zu erreichen). Anfangs ist da der Auszeichnungs-Streber (der moralische Angeber), der den Nächsten (den Barbaren) nicht erfreuen will, sondern überwältigen. Mein oder Nietzsches Ausgezeichnetsein bedeutet dann für den Nächsten (den mich Bewundernden in Nr. 30, den Barbaren hier in Nr. 113), dass der leidet, sich quält, gemartert wird, dass er geschlagen wird, dass er entsetzt und angstvoll erstaunt ist, dann voll Verwunderung und Neid, schließlich voll Bewunderung, Freude und Heiterkeit ist, dass er mich dann aber verlacht und verspottet, verhöhnt gar und Schläge gegen mich austeilt, mir Martern antut. Siehe da: so macht er mich zum Asketen und Märtyrer. 'Normalerweise' wird am Ende dieser Entwicklung vom Schlagen und Quälen des „Nächsten“ bis hin zur Verspottung des z.B. pädophilen Sadisten durch sein Opfer die Tötung des „Nächsten“ stehen! – Hier bei Nietzsche wendet sich der Sadist zum Masochisten, genießt die Pein, die der Nächste ihm antut, mit der er sich revangiert. Der anfängliche Quäler wird zum Selbstquäler oder doch zum sich genußvoll Quälenlassenden. Nietzsches Asket und Märtyrer!
Dieser Asket, also ich oder Nietzsche, empfinde dann höchsten Genuß dabei, genau das vom Nächsten („an dem und vor dem“ ich mich auszeichnen wollte) getan zu bekommen, was ich ihm getan habe, indem ich mich auszeichnete. (Was heißt: Ich will mich an (!) dir auszeichnen? – Und warum die Rede vom „Nächsten“, den man lieben soll, wie sich selbst? Vgl. Lk 10:27. Vielleicht wegen des mitleidigen Samariters in Lk 30 ff.? Da ist der „Nächste“ dessen, der halbtot geschlagen da lag, derjenige, der ihm half, also der Samariter, nicht der Levit und der Priester, die auf den Halbtoten nicht reagierten. Jedenfalls ist es Nietzsches Nächstenliebe, von der wir hier erfahren.) Jetzt triumphiert also der Asket, triumphiere ich oder Nietzsche, und zwar über sich selbst. Das heißt: Über sein „Mitleid“!! Der sich Auszeichnende und damit den Nächsten Quälende, Marternde, ihn Schlagende und in Entsetzen Versetzende triumphiert über sein Mitleiden, indem er die dann vom Anderen oder Nächsten erleidende Qual als so gewollt genießt. Davon mehr in Nr. 114 (Warum eigentlich? – Nietzsche gilt als der klarste, geistreichste, sprachmächtigste, am meisten zukunftsweisende, meistzitierte, bedeutendste Philosoph des 19. und 20. und womöglich des 21. Jahrhunderts. Reicht das?)
In Nr. 114 handelt Nietzsche vom Triumph über sich selbst oder, wie es jetzt heißt: der Tyrannei über sich selbst. Auch wieder etwas Göttliches: Jesus wurde am Kreuze „im Augenblicke der höchsten Qual hellsichtig über sich selber“. Das gilt für den „Schwerleidenden“ überhaupt. Der Intellekt will dem physischen Schmerz Widerstand leisten. In „ungeheurer Spannung“ und wegen des „unsäglichen Reizes“ schafft er es, das Fortleben des Leidenden als „höchst begehrenswert“ erscheinen zu lassen und die Welt der Gesunden zu verachten. Pessimismus, Lebensverneinung, Selbstmord wären jetzt Hochverrat. Dabei macht er aber seiner Seele „das bitterste Leid“. Doch gerade dadurch hält er dem Schmerz stand. Wie schafft er (Nietzsche, Jesus) das? – Durch Stolz. Der Stolz bäumt sich auf „wie noch nie“. Es reizt ihn (ein Reiz „ohne Gleichen“. Alles Superlative!), gegen den tyrannischen Schmerz das Leben zu vertreten (das Leben als Schmerz). Ich, Nietzsche, Jesus rufe mir dann in „schauerlicher Hellsichtigkeit“ zu: Sei dein eigener Richter und Henker und genieße es, Tyrann über dich zu sein, indem du dein Leiden als eine dir von dir selbst verordnete Strafe ansiehst. Strafe: wofür? Entschuldbar wäre der Pessimimus, meint Nietzsche, aber wir sind Optimisten, d.h. für das Leben, wir wollen zeigen, gerade jetzt, „dass wir 'ohne Schuld' sind.“
Später, wenn der Schmerz verklingt und man auf dem Wege der Besserung ist, findet man diesen Hochmut des Schmerzaushaltens (des Aushaltens der Strafe als Selbstbestrafung) als „albern und eitel“. Man tritt aus der furchtbaren Helle der Leidensphase heraus. Die Erde hat uns wieder. Und man ist ganz gerührt, milde und müde und kann „nicht Musik hören, ohne zu weinen“.