6. Moral mit Honig

1. Immoralistische Internationale (zu Aphorismen Nr. 76 und 96)

Zu Nr. 76: Das Christentum hat Eros und Aphrodite verhunzt, „notwendige und regelmäßige“ (sexuelle) „Empfindungen“ zur „Quelle des inneren Elends“ gemacht – „bei jedem Menschen“,(gesperrt gedruckt!), nicht etwa nur bei Homosexuellen. Aber es gibt eben ein meistens „geheim gehaltenes und dadurch tiefer wurzelndes Elend“, sagt Nietzsche. (Und das ist das Elend der Homosexuellen.) Er verweist auf den mutigen Shakespeare mit seinen (die gleichgeschlechtliche Liebe betreffenden) Sonetten, in denen er die „christliche Verdüsterung“ in puncto Sex bekennt! Warum gilt als „böse“, was bei einem selbst ein Vergnügen, beim anderen eine Wohltat, „eine wohlwollende Veranstaltung“ ist, fragt sich Nietzsche? – Einen „Komödien-Ausgang“ hat die Verteufelung der Liebe, des Sex, doch gebracht, schreibt Nietzsche: Liebe ist zum Thema Nr. 1 geworden, unbegreiflich für das Altertum, in dem Sex nicht verteufelt, aber eben auch nicht Hauptthema war.

Zu Nr. 96: Soweit wie man in Indien bereits vor 4000 Jahren war, so weit sind wir heute in Europa noch nicht: Wir haben die Religion der Selbsterlösung (ohne Priester, Erlöser, ohne Bräuche und Sitten: ohne Moral!) noch nicht. Aber immerhin: 10 bis 20 Millionen, die – in Anführungszeichen! – „nicht mehr an Gott glauben“, d.h. an die Moral, gibt es in Europa (das entspricht übrigens dem Anteil der Homosexuellen an der männlichen Bevölkerung). Sie sollten sich an einem Zeichen, das sie sich geben (wie z.B. die Freimaurer den bestimmten Hände- bzw. Fingerdruck), einander zu erkennen geben bzw. einander erkennen (vgl. Bibel: Erkennen = Beischlaf, Adam erkannte Eva, Baum der Erkenntnis ...). Dann werden sie eine Macht sein in Europa, zwischen den Ständen, zwischen Arm / Reich usw., d.h. quer durch alle Schichten, Klassen, Professionen und Charaktere (zwischen den Beunruhigenden, wie Nietzsche, und den Beruhigendsten, z.B. P. Rée). Sie werden hoffentlich in diesem Zeichen (invers zu Konstantin, der im Christuszeichen siegte) siegen (dem Zeichen des Dionysos), siegen über die christliche Moral der Erosverteufelung, insbesondere der Verteufelung des griechisch-päderastischen Eros.

Wer sind diese Ungläubigen, für die Nietzsche das Zeichen des Erkennens fordert? – Es sind Seinesgleichen, solche von seiner Art, 15 Millionen unter 150 Millionen Männern! Und was ist der Sieg? Er ist Selbsterlösung, oder – mit Paulus – Befreiung vom Gesetz. (Schwachsinn sei es, so eine reagierende starksinnige Stimme im Seminar, in Nietzsches geforderter Truppe der Gott-Ungläubigen die heutige Schwulen-Community als vorweggenommen zu sehen.)

2. Grausamer (oralverkehrter) Honig (zu Aphorismus Nr. 29 und 30)

In Nr. 29 stellt Nietzsche im Umkreis des Christentums ein widerliches Prunken und Paradieren mit der Sünde fest (Wetteifern in der Zerknirschtheit als schwaches, sündiges, dem Fleisch verfallenes Wesen wie bei Paulus) – ganz anders als bei den alten Griechen, welche wetteifernd ihre Tugenden zur Schau brachten.

In Nr. 30 geht es um die „fast wehetuende Neuigkeit“ der Grausamkeit des sich moralisch (durch Tugend) Auszeichnenden. Nietzsche stellt fest, dass (ebenfalls im Christentum, denn er nimmt u.a. den Demütigen und die Nonne als Beispiele) die Tugendhaften, d.h. die sich moralisch Auszeichnenden, bewundert würden. Dafür nennt er 4 von zahllosen Variationen: 1. Den vollkommenen Demütigen, 2. den sich der Tiere Erbarmenden, 3. den großen Künstler, 4. die Nonne. Die Bewundernden würden von Neid erfüllt, von Ohnmachtsgefühl und Schmerz ergriffen, wenn sie auf diese Typen blicken. Und dieses Quälen, Wehtun, diese Grausamkeit sei der Hintergedanke bei den sich moralisch Auszeichnenden und dafür Bewunderten. Diese quälen mit ihrer ausgestellten Tugend die anderen. Sie folgen dabei ihrem Trieb der Grausamkeit. Der steckt in der „Moral der Auszeichnung“, meint Nietzsche.

Aber nur in der ersten Generation quälen sie die anderen absichtlich, nur zunächst steckt hinter dem moralischen Tun die Lust der Grausamkeit (jene „älteste Festfreude der Menschheit“ mit deren kriegerischen Tugenden der Verstellung, Vernunftverleugnung und Rache, siehe Nr. 18). Dieser Lust entspricht der „Hintergedanke“ des Wehtunwollens. Dieser Hintergedanke, so Nietzsche, würde eben nicht in die zweite Generation „vererbt“. Schon in der zweiten Generation handelt man moralisch (d.h. zeichnet sich moralisch aus) „aus Lust allein an der Gewohnheit“. Und diese sei dann die erste Stufe des Guten.

Die Unstimmigkeiten und die Zirkularität der Begründung einer gewohnheits-lust-mäßigen Moral sind auffallend. Diese 'Defekte' haben wohlmöglich einen Sinn. 1. Fällt auf die Unstimmigkeit, dass in Nr. 29 Christen mit erlogener Sündhaftigkeit prunken – im Gegensatz zu den Griechen, und dass sie dann in Nr. 30 – wie die Griechen in Nr. 29 – mit Moral oder Tugend angeben. 2. Dann der Begründungszirkel: In Nr. 30 sind Trieb und Hintergedanke der Grausamkeit gegen die bewundernden Anderen, die dadurch klein werden, Grund moralischer Anstrengung, wobei der Hintergedanke in der 2. Generation verschwindet. Der Trieb aber doch wohl nicht! Dennoch: Nur die Lust an der Gewohnheit ist ab 2. Generation der Grund moralischer Anstrengung. Bewundert werden diese sich moralisch Auszeichnenden aber wohl immer noch, und d.h.: sie quälen die Bewundernden, nur jetzt ohne Lust beim Quälenden seitens der Moralischen. Die Entstehung des sogen. Guten, bei dem der Hintergedanke fehlt oder vergessen ist, wird also zirkulär, d.h. gar nicht erklärt, denn die Bewunderung, und damit Anerkennung der Moral als gut, ist nötig, damit moralisches Handeln zur Gewohnheit wird und die Wertschätzung „das Gute“ (in erster Stufe) entsteht. Erst gibt es nämlich nach Nietzsche, grausamkeits-trieb-bedingt, die wiederholte Handlung (vor den Bewunderern seitens der sich Auszeichnenden), dann erst die Gewohnheit mit grausamkeitstriebloser Lust an der Gewohnheit und das geschätzte Gute (ohne das es aber keine Bewunderung gibt).

Was nun will Nietzsche uns mit diesem wohl absichtlich verkehrten und notwendigerweise, wegen der subtextuellen Botschaft, widersprüchlichen Rede sagen? – 1. Wir sollen uns auf die nichtvererbten Hintergedanken besinnen, auf die Lust an der Grausamkeit, und die Grausamkeit wieder zur Tugend machen. Moral ist verlogen (ohne dass es den Tugendhaften, den Bewunderten, bewusst ist mangels nicht vererbten Hintergedankens ab Generation 2). Grausamkeit ist ehrlich, hat Triebgrund. Bekennen wir uns also zur Bestie auf dem Grund der Moral, zur unverdeckten Bestialität! (Dass Moral ein tierhaftes Phänomen ist, legt Nietzsche in Nr. 26, "Die Tiere und die Moral", dar.) Machen wir es so wie die Moralischen der ersten Generation, stellen wir den Hintergedanken, den Quälgeist, heraus. – 2. Aber das ist noch nicht alles, was er uns sagen will (ohne es direkt auszusprechen). Es gibt da noch den Tropfen Honig! Darüber schreibt Nietzsche: Aus Lust an der Grausamkeit tröpfeln wir Ausgezeichneten unseren Honig (o süße Qual!) auf die Zunge der anderen und schauen „scharf und schadenfroh“ zu, wie die sich nun quälen mit unserem Honig auf der Zunge (vgl. das Honigopfer im Zarathustra und dort passim Honig!). Die anderen kosten damit (mit dem süßen Honig, der ihnen aber bitter schmeckt!) die Bitterkeit ihres Fatums (ihres lustlosen Daseins. Sind sie nicht impotent, solchen Honig zu produzieren?). Der Honig macht die anderen neidisch. Und das wollen wir auch so, wir Grausamen (die wir die Grausamkeit von den Moralischen lernen können). Ein merkwürdiger Oralverkehr ist das.

Der Sinn der Defekte (s.o.) wäre die Botschaft: Quälen oder lustig grausam sein (mit Honig) kann man sowohl mit Tugend wie auch mit Sündenschau, also mit Moral und ohne. Dies Quälen gibt ein „Gefühl der Macht“. Davon das nächste Mal.

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