1. Gesetz im AT und im Judentum (Mitteilung von M.-A. Bußhoff. Quelle: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 1986, S.151 ff)
Gesetz (= Tora) umfasst seit dem 2. Jh. v. Chr. den gesamten Pentateuch und betraf ursprünglich die mündliche Weisung des Priesters zu kultischen, rechtlichen und ethischen Problemen. Im Deuteronomium (= 5 Mose) dokumentiert sich ein Wandel des Tora-Begriffs, sofern seit Hosea mit Tora nicht allein die Einzelweisung des Priesters gemeint ist, sondern einheitlich die gesamte Gesetzgebung. Im AT enthält das Gesetz zivil-, straf-, kult- und ritenrechtliche Regelungen und lässt sich differenzieren nach apodiktischen, kasuistischen und kultischen Gesetzen. Während die apodiktischen Gesetze kategorische Verbote beinhalten, die in einem über die Jahwe-Verehrung zusammengeschlossenen Stämmeverband dazu dienten, die Gottesbeziehung zu sichern vor einem Abfall vom Jahwe-Glauben, regelten die kasuistischen Gesetze das Zusammenleben in der Stammesgemeinschaft und waren Grundlage der Rechtsprechung im 'Tor'. Wie Deuteronomium und Heiligkeitsgesetze zeigen, galten auch die kasuistischen Gesetze der Intention, das Gottesvolk Israel abzugrenzen von den Glaubensbezügen der benachbarten Völker, insbesondere es vor dem Kanaanaertum zu 'schützen'. Das Gesetz nicht zu akzeptieren bedeutet, die gottgegebene Gemeinschaft aufzukündigen und Gottes Weigerung herauszufordern, weiterhin den Bund mit Israel aufrechtzuerhalten. Die Neugründung der Gemeinde durch Esra um 400 bedingt einen Funktionswandel des Gesetzes zu einer primär theologischen Größe, an der sich Gottwohlgefälligkeit und Zugehörigkeit des Einzelnen zur Gemeinschaft entscheiden. Ihre Verselbständigung als Gegenstand der Verehrung (vgl. Ps 19 und 119) verweist auf den Nomismus des Judentums, d.h.:
Nach Auffassung der Rabbinen bestimmt das Verhältnis des Menschen zum geoffenbarten Gesetz seinen Bezug zu Gottt derart, dass der Gehorsam gegen das Gesetz die Gottfindung bedingt. Das Gesetz umfasst die mosaischen Normen und die daraus entfalteten Vorschriften zur theologischen Regelung des Alltagslebens. Diese geben z.B. Auskunft darüber, was am Sabbat verboten ist zu tun, was erlaubt, wie das Passafest zu gestalten ist, was als rein, was als unrein zu gelten hat. In Befolgung des Beschneidungsgebotes, der genauen Beachtung der Sabbatvorschriften, der Wahrung der Speise- und Reinheitsgesetze vergegenwärtigten sich die Gemeindemitglieder, dass Gott sich Israel als sein Volk erwählte und dieses aufgrund dessen unbedingten Gehorsam schuldet. Das Gesetz regelt die Alltagswirklichkeit derart, dass es mit zunehmend ausdifferenzierten Vorgaben die Tagesverrichtungen des Einzelnen nach dem Modus ihrer Ausführung festlegt und dabei mögliche Fallvarianten verschiedenster Lebenslagen berücksichtigt. Dabei wird vorausgesetzt, dass es dem Gerechten möglich ist, das so ins Detail seiner Alltagswirklichkeit ausgreifende Gesetz zu erfüllen und im Gehorsam gegen die Gesetzesvorschriften die Gemeinschaft mit Gott zu gewinnen.
2. Nietzsche/Paulus: Die Beziehung zu Gott, die Errettung und Erlösung, war durch das (jüdische) Gesetz (die hl. Schrift, Tora) definiert. Die Werke, die Befolgung der Gebote und Vorschriften, bewirkten das Heil. Nun ist durch Jesus an die Stelle des Gesetzes und der Schrift der Glaube und die Gnade Gottes getreten: eine unmittelbare oder geistige Beziehung. Die Gesetzesübertretung (Sünde, Werke) braucht von Gott nicht angerechnet zu werden (Römer 5,13). Das Gesetz ist in gewisser Weise gestorben, erledigt, abgelöst durch die unmittelbare Beziehung. Dazu gehört nun auf Seiten des Menschen, nach dem Geist und nicht nach dem Fleisch zu leben (Römer 8,4), oder: dem Fleisch (= der Sünde) gestorben zu sein (Römer 6,2), zugleich tot zu sein für das Gesetz (Römer 7,4). Damit adaptiert man den Tod Jesu, des Fleisch (= Sünde) gewordenen Gottessohnes: Er hat an seinem Fleisch die Sünde verurteilt, damit die Forderung des Gesetzes (des Geistes oder Gottes) durch uns erfüllt werde (Römer 8,3-4).
3. Zur Legitimierung bzw. Glaubhaftmachung der Gesetzestötung (Moraländerung, Moralabschaffung) ist die Selbstabtötung (Askese, „fortwährendes Absterben“) und der Wahnsinn nötig. Entsprechend ist Paulus „tot“ und redet „inspiriert“ (= ein „Mundstück Gottes“), schreibt Nietzsche in Nachgel. Fragmente Sommer 1880 (Bd. 9, S.156). Und Nietzsche selbst als Gesetzesbrecher, - töter und -erfüller? – Er hat ein Gesetz loszuwerden, was ihm das Christentum überliefert hat, obwohl Jesus doch eigentlich alle Vorschriften loswerden wollte. Nietzsche hasst das Christentum und liebt Jesus. Er zitiert Jesus so: 'Es liegt nichts an der Sünde' (13/157). „Das Gesetz war für Knechte – liebt Gottt, wie ich ihn liebe, als sein Sohn! Was geht uns Söhne Gottes die Moral an!“ (5/101, vgl. mein Buch Ecce Nietzsche, S.120) Nietzsche: „Mit einiger Toleranz im Ausdruck“ könne man „Jesus einen 'freien Geist' nennen.“ (6/204) Wäre Jesus Dionysos, bedürfte es dieser 'Toleranz' nicht. Dann wäre er auch Nietzsches Erlöser und nicht nur der des Paulus. Nun muss Nietzsche diese Erlöserrolle selbst übernehmen – wenigstens im Geiste: in seiner Schrift Zarathustra, die als neues, auch vierteiliges Evangelium der Befreiung vom christlichen Gesetz konzipiert ist. Der Verbrecher (z.B. der Homosexuelle) wird zum Übermenschen. (Vgl. z.B. Zarathustra I, Vom bleichen Verbrecher, dem mit schlechtem Gewissen.)
4. Der Pauluskomplex wird hier im ersten Buch der Morgenröte flankiert von Aphorismen, die aufklärerisch klingen: Nr. 7, 24, 37, 10, 11, 12 und 87. Nietzsche klärt über den Aberglauben, die eingebildeten, phantastischen Kausalitäten der Gesetzeserfüllung (= -befolgung) auf: Glück auf der Jagd bei den Leuten in Alaska, wenn man keine Tierknochen ins Feuer wirft (Nr. 24). Man denkt sich den Erfolg, die Folge, den Effekt der moralischen Handlung bzw. moralischen Unterlassung (z.B. des Nicht-Knochen-Verfeuerns oder Nicht-Masturbierens oder des Nicht-mit-dem-linken-Bein-zuerst-Aufstehens) nicht als wissenschaftlich überprüfbaren Effekt der Handlung (Wirkung), sondern als Zusatzgeschehnis, das der Gott verfügt, der die Handlung sieht (Nr. 12). Nietzsche plädiert für die Reduzierung von Handlungswirkungen auf objektivierbare physikalische Effekte (Nr. 10), für die Abschaffung der abergläubischen, „phantastischen Causalitäten“ (N3.10), für die Beschränkung auf die wirkliche Welt. Das klingt nach Positivismus, Utilitarismus; wirkt aufgeräumt. – Warum hat er aber dann Gewissensbisse, sorgt sich um seine Glaubwürdigkeit als Gesetzestöter? Er traut sich ja nicht, ein Dionysos (nach Rob. Graves die Tunte unter den Göttern) zu sein! Schuld und Strafe (Nr. 11) gehören zu den phantastischen, irrealen Kausalitäten (Wirkungen). – Nietzsche fehlt eine Über-Ich-Psychologie.