1. Zu den überlegenen Menschen, den Neuerern, die es, wie Nietzsche sich ausdrückt, unwiderstehlich dahin zog, eine Sittlichkeit zu brechen und neue Gesetze zu geben (z.B. das „poetische Metrum“ zu ändern, und die darum die Selbstkasteiung und den Wahnsinn als Beglaubigung nötig hatten, siehe Nr. 14) zählt Nietzsche (3/27, Zeile 25) den ersten fassbaren attischen Dichter und athenischen Staatsmann Solon (640-560). Solon schrieb (u.a. homoerotische) Gedichte und Elegien, in denen er seine Ethik des rechten Maßses und der rechten Ordnung rechtfertigte, und tat sich als Staatsmann und Gesetzgeber hervor. Als es ihm darum ging, die Athener zur Eroberung von Salamis „aufzustacheln“, griff er, wie Nietzsche schreibt, zu einer „gewissen Konvention des Wahnsinns“. Sie bestand darin, dass sich Solon als Herold (Fürstenbote) verkleidete, mit einem Heroldstab zum Zeichen einer quasi göttlichen Mission auftrat und als Dichter und Seher, also mit dichterischer Mania, predigte. So konnte er das Tabu brechen, überhaupt über Salamis zu reden. Mit Salamis verbanden die Athener nämlich das Bewusstsein von Schmach und Scham wegen der Niederlage, die sie gegen die Megarer, denen Salamis gehörte, erlitten hatten. Auf den Tabu-Bruch stand die Todesstrafe. Solon brach mit der 'Sitte' des Schweigens über Salamis und bewirkte, dass man wieder über Salamis sprach, und zwar in Hinblick auf die Eroberung, die dann auch gelang, so dass Solon nach gewonnener Schlacht zum Archon (Staatsführer) gewählt wurde. Er ging als Gesetzgeber und Begründer des athenischen Staates in die Geschichte ein.
2. In Aphorismus Nr. 21 geht es um die als Tugend oder Sittlichkeit zu verstehende Gesetzesbefolgung, von der man das Glück erwartet, und in Nr. 68 (wie schon in Nr. 14, 3/28) um die Tötung des Gesetzes, welche die Befreiung vom Gesetz bedeutet. – Eine „leidende und zerdrückte Menschheit“, so Nietzsche in Nr. 21, wird um die Erfüllung des Gesetzes (der „moralischen Vorschriften“) bemüht bleiben, auch wenn sich der Erfolg, das „verheißene Glück“, nicht einstellt. Die Menschen meinen dann: Wir haben eben irgend etwas bei der Ausführung nicht richtig gemacht. Vorschrift und Verheißung sind wohl für bessere Wesen gedacht, als wir es sind. Unfähig zur Moralität haben wir keinen Anspruch auf Glück. Sünder sind wir, unfähig das Gesetz wirklich zu erfüllen.
Was für ein Moralgesetz, welche Vorschriften? So fragt man sich. Und: Kann man denn nicht das Gesetz ändern bzw. „töten“? – Glaubwürdig bei sich selbst und anderen durch Wahnsinn und Selbstkasteiung (lat. castus = rein, keuch) muss man dazu allerdings für die Gesetzesänderung oder -tötung sein, meint Nietzsche (siehe Nr. 14, 3/28 mitte.). – Von beidem, der Art des Gesetzes und seiner Tötung, erfahren wir mehr in Nr. 68.
3. Nr. 68 handelt von Paulus, seinem Problem der Gesetzeserfüllung und -übertretung und schließlich von seiner Befreiung vom Gesetz durch Gesetzestötung, worin wir dann Nietzsche (unausstehlich wie Paulus, vgl. 3/65 mitte) mit seinem Moralproblem, seiner fixen Idee, wiedererkennen. Die „fixe“ Frage des Paulus (und Nietzsches) lautet, „welche Bewandtnis es mit dem jüdischen Gesetz habe? Und zwar mit der Erfüllung dieses Gesetzes?“ (3/65)
Paulus, geboren in einer streng jüdischen Familie der Diaspora (in Tarsus, Kilikien, Süd-Türkei), erbte von seinem Vater das römische Bürgerrecht. (Palästina/Israel stand damals unter römischer Besatzung.) Als „fanatischer Verteidiger und Ehrenwächter“ (3/65) Jahwes und seines Gesetzes (hebr. tora, = die fünf Bücher Mose) verfolgte er die Christen wegen der Öffnung ihrer Kirche zu den Sündern und womöglich auch Heiden, was dem pharisäischen Ideal eines in priesterlicher Reinheit geheiligten Israels widersprach, – bis ihm der auferstandene Christus in einer Vision erschien und ihm klar wurde, dass ihm, weil er nämlich selbst ein Sünder war, die christliche Kirche offen stand, d.h. sein Ort in dieser Kirche war. Drei Jahre später, nach der Anerkennung durch die Ur-Apostel, wurde er der Missionar für die sich den Sündern und Heiden öffnende Chistenkirche.
Nietzsche erklärt diese Wende (unter Einbeziehung der Äußerungen des Paulus im Römerbrief über sein Leiden am Gesetz) so: Während Paulus fanatisch die Befolgung des jüdischen Gesetzes bewachte und Übertretung hart bestrafte, merkte er an sich selbst, dass er selbst das Gesetz nicht erfüllen konnte. (Paulus deutet Mord, Unzucht, Ausschweifung an.) Ja, dass das Gesetz ihn reizte, es zu übertreten. Paulus weiß von einem „Stachel“ (vgl. „Pfahl im Fleische“, 2 Kor 12), dem er nachgeben musste. War das die Fleischlichkeit oder das (phallische) Gesetz selbst? Die Marter des unerfüllten Gesetzes (das böse Gewissen) schien jedenfalls unüberwindbar. Bis er dann bei der Vision (Epilepsie!) die Stimme des Jesus-Gottes hörte: „Warum verfolgst du mich?“ – Ja, warum eigentlich verfolgte er Jesus bzw. seine Anhänger, die Christen? So fragte er sich. Hatte Jesus nicht das ihn quälende Gesetz vernichtet! – So schoss es ihm durch den Kopf. Fortgeblasen die moralische Verzweiflung. Das Gesetz ist weg, „nämlich erfüllt dort am Kreuze“ (3/67)!
So etwas wünschte sich Nietzsche wohl auch: Die Moral „fort blasen“. Er stilisierte sich schließlich selbst zum Gesetzestöter durch Selbstopferung – bis zu seinen Wahnsinnszetteln: „Dionysos gegen den Gekreuzigten!“ Dionysisch leben ist gegen das Gesetz – das jüdische wie das christliche. Auf verkehrten Verkehr (außer Missionarsstellung mit Zeugungsabsicht) steht die Todesstrafe (vgl. Paulus, Römerbrief 1,26, davon weiter unten).
4. Entscheidend für die Erlösung des Paulus von der moralischen Verzweiflung durch unwiderstehliche Gesetzesübertretung (Unzucht, Gelagelust usw.) ist die Einsicht oder der ungeheure „Einfall“, dass Jesu Tod nicht seiner Messianität (also dem, dass Jesus der Erretter ist) widerspricht, sondern „nötig war, um das Gesetz abzutun“. Jetzt muss man sich nur noch mit Jesus identifizieren, also selbst absterben, um das Gesetz los zu sein.
Absterben, das Gesetz abtun – darum geht’s also. – Folgende Gleichungen gelten: Dem Bösen absterben = dem Gesetz absterben (nicht im Gesetz sein). Im Fleisch (der Sünde) sein (böse sein) = im Gesetz sein. Das Gesetz war dazu da, damit gesündigt wird (siehe Sündenfall: von allen Bäumen darfst du essen, nur von diesem nicht, wenn doch, musst du sterben! – Na, dann iss und stirb, stirb dem Gesetz, sei das Gesetz los! (Das Essverbot bzgl. des Baumes der Erkenntnis Gutes und Böses, oder das falsche Essen, ist über die biblische Gleichung von Essen = Erkennen = Beischlafen ein falsches Beischlafen. Vgl. mein Buch Die grausame Wahrheit der Bibel)
Das also ist das Wunderbare: Befreiung vom Gesetz durch Übertretung. Oder: Es anders machen (falsch verkehren) und kein schlechtes Gewissen (worin das Gesetz präsent ist) haben. Nietzsches Wunsch! Paulus hat es anscheinend geschafft. Kraft Jesu, Jesu Opfertod. Allerdings ist da eine gewisse Schwierigkeit, die mit dem Absterben. Gesetzestod bedeutet auch Leibtod (durch Kreuzigung Jesu, durch Selbstabtötung = Tod der Fleischlichkeit, 3/67 unten, bei Paulus). Das Gesetz wohnt nämlich in der Fleischlichkeit. Aber tot ist der erlöste Paulus ja noch nicht (erst im Jahre 60 machte man ihn zum Märtyrer). Nietzsche: Man ist dann zwar nicht ganz tot und das Fleisch los, aber „wenigstens in fortwährendem Absterben“ begriffen, „gleichsam verwesend“ (3/67 f). Indem er weiter lebt, ist er mit Jesus auferstanden. Eine schamlose Identifizierung, meint Nietzsche. („Gipfel des Rausches“ dieser „zudringlichen Seele“!) Aber so ist es eben: dieser Paulus ist der Erfinder der Christlichkeit, der erste Christ. – Wie wird es Nietzsche mit seinem Gott Dionysos ergehen?
5. Schauen wir uns die Ausführungen von Paulus selbst an, seinen 'Römerbrief'. Gott hat jedem offenbart, so schreibt Paulus an die römische Christengemende, was man von Gott erkennen kann. Wenn einige dann doch nicht Gott ehren und ihm danken, dann liefert Gott sie entehrenden Leidenschaften aus, den Leidenschaften verkehrten, hier ausdrücklich homosexuellen (bei Frauen und Männern), Geschlechtverkehrs (1,26). Gottlosigkeit erkennt man also an der Homosexualität. Wer das macht, verdient den Tod (1,32), so befindet, so spricht und richtet Paulus. Aber der so Richtende verdient selbst den Tod, wenn er dasselbe (d.h. verkehrte Sexualität) tut. – Soll man also nicht richten, weil man es doch selbst tut? Wenn du richtest, verurteilst du dich nämlich selbst, meint Paulus. Tut Paulus es, Sünder richten und selbst sündigen? Die Richtenden, an die Paulus sich richtet, die Rechthaber, sie tun es: Ehebruch, Götzenverehrung usw. (2,22).
Nun gibt es ein Indiz dafür, dass man dem Gesetz (tora, die 5 Bücher Mose der Bibel) verpflichtet ist: das Zeichen für den Bund der Juden (Israeliten) mit Jahwe: die Zirkumzision, der von der Vorhaut befreite Penis. Das Gesetz befolgen heißt dann, dem beschnittenen Penis folgen im Sinne richtigen Verkehrs. Denn der Erhalt Israels, die Fortzeugung der Juden, dessen Stammesgott Jahwe ist, ist das Wichtigste. Die anderen detaillierten Vorschriften und Sitten betreffen das weitere Zusammenleben der Gezeugten, also des Volkes Israel. Das Gesetz ist demnach wesentlich das der Fortzeugung, ist das Gesetz des Vaters oder der Familie.
Die Befolgung und Übertretung des Gesetzes (des Gesetzes schlechthin, also tora) hat unmittelbar zu tun mit dem beschnittenen oder unbeschnittenen Penis. D.h.: in Sachen Moral ist zunächst und immer an den Penis zu denken – nicht nur bei den Juden, eben auch bei Paulus, dem beschnittenen Christen und dann bei Nietzsche, dem unbeschnittenen Protestanten. Das Zentralorgan der Moral ist überall der Penis! Seine Verstümmelung und auch Scharfmachung am 8. Tag nach der Geburt ersetzt bei den Juden das Erstlingsopfer von Mensch, Tier und Pflanze. Die Beschneidung ist zudem eine symbolische Kastration ('Einschreibung' der patriarchalen Macht des Vaters in den Körper) und wohl auch, durch die erzeugte Blutung, ein der weiblichen Blutung entsprechendes Zeichen für Fruchtbarkeit bzw. eine Aufforderung zu ihr. (Weiteres in meinem Bibelbuch!)
Paulus schreibt über die Juden und das Gesetz im Römerbrief: Wenn der Beschnittene das Gesetz befolgt, so folgt er dem Zeichen in seinem Fleische, geht mit dem Zeugungsorgan richtig um und widersagt sündiger Fleischlichkeit. Also ist hier die Beschneidung nützlich (Röm 2,25). Man trägt gewissermaßen seine Moral mit sich herum in Gestalt fehlender Vorhaut bzw. enthüllter Eichel, die aber keiner sehen darf. Übertritt man als Beschnittener das Gesetz, so entsteht die Vorhaut neu, man wird zum Unbeschnittenen, sagt Paulus. Man wird es virtuell, versteht sich, oder im Geiste. Man kann allerdings auch chirurgisch nachbessern oder -schlechtern (ankleben, annähen, restliche Haut weiten). Viele Juden, die im griechischen Kulturkreis lebten, wo die entblößte Eichel tabu war (siehe fibulatio und kynodesme, z.B. in Paul Zanker, Die Maske des Sokrates, München: Beck 1995, S.30) griffen zu diesem Mittel. (Heute tut es mancher Beschnittene auch.)
6. Nun zur Gesetzesbefolgung durch den leiblich Unbeschnittenen. Er wird durch die Gesetzesbefolgung zum Beschnittenen (= geistige Zirkumzision). Der (nur) geistig beschnittene Gerechte wird den leiblich beschnittenen Gesetzesübertreter richten können. Paulus: Beschneidung zum Juden geschieht im Geiste und am Herzen, nicht (durch den Buchstaben, gemäß der Tora) im Fleisch am Penis (vgl. Nietzsche und das „Genie des Herzens“ in Jenseits von Gut und Böse Nr. 295 und Ecce homo 6/305 ff).
Vor Gott sind alle Menschen, Juden wie Griechen, schuldig, meint Paulus. Eigentlich ist das Gesetz es schuld. Das Gesetz ist nämlich dazu da, dass „die ganze Welt vor Gott schuldig wird“ (3,19). Zum Gerechten wird man nur durch die Gnade Gottes, d.h. durch das Gesetz des Glaubens und nicht das der Werke. Der (christliche) Glaube setzt aber das (jüdische) Gesetz nicht außer Kraft, sondern richtet es auf (3,31). Aber Gott sieht nur auf den Glauben, nicht auf den Penis, ob beschnitten oder unbeschnitten. Er macht selig auch die Unbeschnittenen, schließlich wurde Abraham (mit 99 Jahren) Vater der Beschnitten auf Grund des Glaubens, den er schon zuvor als Unbeschnittener hatte.
Allerdings wird Sünde da nicht angerechnet, wo es kein Gesetz gibt (Ehebruch der Frau nach dem Tod des Mannes ist unmöglich, 5,13 und 7,3). Wo aber Sünde ist, wird sie mächtiger durch das Gesetz. Und darum kann es dann auch größere Gnade geben (5,20). Also drauflos sündigen? Nein, nein! Wie sollten wir in der Sünde leben können, wo wir doch auf den Tod Jesu getauft sind? Wir sind für die Sünde tot (der Sünde tot, = peccato, Dativ). Jesus ist nämlich für die Sünde gestorben, lebt nun für Gott. So auch wir. Wir stehen nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade. Dürfen wir also sündigen? (6,15) Nein, nein. Wir würden sterben, statt ewig zu leben. (Vgl. Nietzsche: „Wie seltsam muss der erste Todesfall unter diesen Wartenden gewirkt haben“, 3/71) Durch Jesu Tod sind wir tot für das Gesetz, frei vom Gesetz, und dienen nun in der neuen Wirklichkeit des Geistes, nicht mehr in der des Buchstabens. – Eine schizoide, verrückte Argumentation!
7. Nochmal Paulus: Nur durch das Gesetz habe er die Sünde gekannt, d.h. „die Begierde“. Zur Sünde wäre er durch das Gebot „du sollst nicht begehren“ getrieben worden. Aber dennoch: das Gesetz sei heilig, sei vom Geist bestimmt. Ich bin verkauft an die Sünde, klagt Paulus, ich bin Fleisch. Ich tue nicht das, was ich will, sondern was ich hasse (7/15). D.h.: nicht ich, die Sünde tut es. Ich freue mich doch am Gesetz! – Es ergibt sich also, meint Paulus, dass ich mit dem Geist Gott diene, mit dem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde.
Nietzsche meint: Die ganze Christenheit hat ihren Paulus, „die eigentliche Dialektik, seine widerstrebenden Gedankengänge, seine eigentliche Not und crux, ... gar nicht gefaßt.“ (9/156) Gilt das nicht auch von Nietzsche selbst und der ganzen Philosophenheit? – Aber nicht von uns, wenn wir in seinen widerstrebenden Gedankengängen und Dialektik seine Not und crux fassen, durch Übertretung des Gesetzes das Gesetz zu töten und frei zu werden vom Gewissensbiss.