Das erste Buch kann wie folgt eingeteilt werden:
Nr. 1-40: über Sittlichkeit, moralische Urteile und Gefühle
Nr. 41-56: über Erkenntnis (vita contemplativa)
Nr. 57-96: über Christentum (Christ und Jesus)
Das zweite Buch:
Nr. 97-111: über Moral, Wertschätzung (Werturteile)
Nr. 112-130: über 'Psychoanalyse' (das Unbewußte)
Nr. 131-148: über Mitleid (Schopenhauer)
Das dritte Buch behandelt: Kultur (griechisches Altertum, deutsche Gegenwart), Politik und Bildung.
Das viertes und fünfte Buch behandeln: Vermischtes (später mehr darüber).
Zu Nr. 9 "Begriff der Sittlichkeit der Sitte". Dieser Begriff wird nicht, wie man hier erwarten könnte, von Nietzsche erklärt (auch in der Sekundärliteratur, z.B. Marco Brusotti: Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra, de Gruyter: Berlin 1997, 702 Seiten, nicht), nur mehrfach mit und ohne Anführungszeichen verwendet: S.21, 23 (dreimal), 24, 26, 42, 491, 493, 537. Sittlichkeit wird S.23 f als Gehorsam gegen Sitten definiert und Sitten als herkömmliche Art zu handeln. Mögliche Unsittlichkeit der Sitte oder Sittlichkeit der Unsitte werden nicht erwogen. – Wir nehmen den Begriff "Sittlichkeit der Sitte" einstweilen als gleichbedeutend mit "Sittlichkeit".
Der Text nimmt sich wie eine Theorie der "Sittlichkeit" aus. Aber genau besehen stimmt da alles nicht (unstimmig ist die Gegenüberstellung von sittlich und individuell, von früherem umfassenden Bereich der Sittlichkeit und heutiger Einschränkung, z.B. Profanisierung der Lebenswelt. Unstimmig ist die Gleichschaltung von Sittenmacht-Abschwächung und Gefühlsverfeinerung, von Selbstopfer und Gesetzeserfüllung. Was sind denn individuelle Handlungen oder Handlungen, deren Motiv das Individuumsein (Egoismus) ist? Wie sind menschliche Handlungen, soziales Handeln, Gefühle, Vorstellungen überhaupt bestimmt von Selbsterhaltungsangst und Sexualität? Was ist das christliche Trachten nach Seligkeit in diesem Zusammenhang? Welche Handlungen oder Tätigkeit sind moralisierbar, sind möglicher Gegenstand von Vorschriften? Nur soziale, nicht individuelle? Alle? Welche können in den Zusammenhang mit Tod und Lebensfortsetzung (der Gemeinschaft und in der Gemeinschft) gebracht werden? Welche können sakralisiert werden? Nietzsche interessiert das alles nicht. Was ihn interessiert und was er sagen will (aber nicht unverschlüsselt kann und darf – das Gesetz hört mit!), steht gewissermaßen zwischen den Zeilen. Sich länger mit solchen Texten wie diesem zu befassen, setzt voraus, den Text und das Buch (wie Nietzsche es in der Vorrede forderte) als Nietzsche zu lesen, also den Autor selbst zu lesen (zu pflücken) bzw. zu erraten in dem, was er meint und wünscht.
Wir gehen vom Schluss des Textes aus: Da spricht Nietzsche von sich und seinesgleichen: "die selteneren, ausgesuchteren, ursprünglicheren Geister". Die sind per se unsittlich. Die haben immer, bis heute, dadurch gelitten, dass andere sie für böse hielten – und sie selbst sich auch. Letzteres ist das Schlimmste. Ist durch die Ächtung der anderen "der Himmel der Besten" schon düster, so ist er noch düsterer durch die Selbstächtung, das "schlechte Gewissen". Oder anders (mit Nietzsches Schlusssatz gesagt): Der Himmel der Besten ist durch ihr schlechtes Gewissen (die verinnerlichte Moral, die Strafmacht des Überich in ihnen) noch "verdüsterter, als er sein müßte", d.h. als durch die Mißbilligung der anderen sein müßte.
Fragen: Worin besteht die Unsittlichkeit oder Bosheit der Besten? In ihrer Individualität und Originalität, sagt Nietzsche. Aber bitte genauer: was machen die denn da Unsittliches und Originelles? Wieso ist Originalität oder Genialität unsittlich?
Andererseits, so schreibt Nietzsche zu Anfang von Nr. 9, ist unsere Zeit "unsittlich". Die Macht der Sitte ist geschwächt. Eigentlich müßte es uns, uns Besten und Auserlesenen, also besser gehen. Aber, meint Nietzsche, das Gefühl für Sittlichkeit sei verfeinert heute, so verfeinert, dass die Einsichten über Moralentstehung für uns schwer entdeckbar und dann auch zu grob sind, um von der "Zunge" zu gehen. Die (schwer zu findende, grobe) Einsicht ist gemeint, dass es eigentlich nur um den Gehorsam geht und der Inhalt, die Art der Sitten egal ist. "Jede Sitte ist besser, als keine Sitte", heißt es in Nr. 16. Diese Einsicht verleumdet die Sittlichkeit und bekommt es mit dem "Gefühl der Sittlichkeit" zu tun. – Eine merkwürdige Feinfühligkeit! Steckt hinter der Sitte oder in der Sitte doch etwas Substantielles wie Nützlichkeit, Arterhaltung, Überlebensmittel (Gruppenzugehörigkeit durch gemeinsame Sitte, Tradition, herkömmliche Handlungsweise)?
In Nr. 103 sagt Nietzsche, dass er die Sittlichkeit leugne, d.h. ihren Grund in etwas Wahrem. Er meint eben nicht, daß sittliche Urteile auf Wahrheiten (z.B. tatsächlicher Nützlichkeit) beruhen. Ebenso leugne er die Unsittlichkeit, sagt er. D.h.: Seiner Meinung nach gibt es keine Wahrheiten als Gründe für das Sich-unsittlich-Fühlen. Vielleicht meint also der Begriff "Sittlichkeit der Sitte" etwas, das Nietzsche leugnet, nämlich: dass Wahrheit der Grund ist für die sittlichen Urteile. Das hieße für Nietzsche: Es gibt keine wahren Sitten.
Sitte ist das Abhängig-Sein vom Herkommen, von Traditionen: "Man macht das so", z.B. Messer rechts, Gabel links! Rechte saubere Hand geben, nicht die linke Schmutzhand! Erst die Butter auf die Scheibe, dann die Marmelade! Nicht Fleisch und Milch aus einem Topf! Kein Schwein! – Ursprünglich, so Nietzsche, waren alle Handlungen im Zusammenhang mit Ernährung, Fortpflanzung, Heilkunst, Krieg, Reden und Schweigen und Verkehr mit den Göttern im Bereich der Sitte. Sich über sie zu erheben bedeutete, andere, neue Sitten zu machen. Das Herkommen ist befehlende überpersönliche Macht. Da etwas zu ändern erfordert, selbst Machthaber zu werden ("Halbgott", "Medicinmann").
Nur um das Gehorchen geht es bei der "Sittlichkeit der Sitte", um das Gesetz. Es bedeutet, meint Nietzsche, nicht an sich selbst als Individuum denken zu dürfen, nicht frei zu sein. Nietzsche setzt dem vom Herkommen abhängigen, hörigen Menschen das freie Individuum entgegen. Der freie Mensch ist unsittlich, schreibt er. Der unfreie Mensch ist sittlich. Der freie (gleich: böse) Mensch ist "individuell", "willkürlich", "ungewohnt", "unvorhergesehen", "unberechenbar", handelt des individuellen Nutzens wegen (womöglich aus Gründen, die ehemals eine Sitte haben entstehen lassen, z.B. Beschneidung). Der unfreie Mensch handelt (entgegen Kants Auffassung) aus Achtung fürs Gesetz, wie Kant sagt, gehorcht dem Herkommen, ohne mit seiner Handlung etwas anderes zu wollen als die Erfüllung des Gesetzes). Das Gesetz ist alles, der Einzelne nichts. Der Sittlichste ist der, der am häufigsten das Gesetz befolgt (erfinderisch ist in Gelegenheiten der Gesetzeserfüllung) und/oder der, welcher dem Gesetz das größte Opfer bringt (trotzdem heiratet, sich umbringt?).
Die Moral der "schwersten Erfüllung" (z.B. heiraten für bestimmte Individuen; Nietzsche wollte es aus finanziellen Gründen und der Familie, Mutter, Schwester wegen) fordert, "trotz allem individuellem Gegengelüst und Vortheil", die Selbstopferung des Einzelnen. Es ist deshalb auch der "Sittlichkeit der Sitte" zuwider, "die Moral der Selbstbeherrschung und Enthaltsamkeit" nicht aus Achtung vor dem Gesetz zu üben, sondern zum persönlichen Vorteil des Individuums und als Schlüssel zum Glück. Enthaltsamkeit tut gut! Darum also übt Nietzsche sich in Selbstbeherrschung und Enthaltsamkeit? Nicht aus Herkommensgehorsam, sondern als individuelle Glücksstrategie. Vielleicht sogar mangels "Gegengelüst". Ist das originell?
Originalität jeder Art ("jede individuelle Handlung, jede individuelle Denkweise erregt Schauder"!) hat unter der Herrschaft der "Sittlichkeit der Sitte" ein "böses Gewissen" bekommen, schreibt Nietzsche. Auch der Originelle (individuell Handelnde und Denkende) wird also das Gesetz (das Über-Ich) nicht los. – Wie bei Kafka ("Vor dem Gesetz") könnte es das Gesetz des Vaters sein, für das er (Kafka wie Nietzsche) nicht tauglich ist: das Gesetz der Ehe (der Fortpflanzung, Vaterschaft, Familiengründung). – Um alte und neue Gesetze, insbesondere das getötete Gesetz (des Vaters), geht es dann in Nr. 14 bzw. der nächsten Seminarsitzung.