Nr. 429 (ich paraphrasiere Nietzsches Text): Zwei Möglichkeiten haben wir, hat die Menschheit hinsichtlich des Untergangs: entweder an der Leidenschaft in Feuer und Licht oder an einer Schwäche im Sande unterzugehen (vgl. Michel Foucault, Beschluss von Die Ordnung der Dinge: "der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand"). Speziell wir (Nietzsche und seine Freunde) wollen lieber den Untergang der Menschheit als den Rückgang der Erkenntnis. – Wäre denn der Rückgang der Erkenntnis eine Vermeidung des Untergangs? – Nein: Er würde eine Rückkehr der Barbarei bedeuten und d.h. Rückschritt zu einem Leben im "groben Behagen", zu einem Leben in einem barbarischen "Glück ohne Erkenntnis". Auch das wäre ein Untergang, der besagte Untergang aus Schwäche, also der Untergang im Sand.
Wir jedenfalls wollen nicht mehr auf Erkenntnis verzichten. Erkenntnis ist nämlich Liebe und Leidenschaft, beides unabdingbar. Und wenn sie auch den Tod bedeuten. Wir scheuen uns so wenig vor diesem Gedanken der Verschwisterung von Liebe und Tod wie das Christentum (Christus starb aus Liebe zu den Menschen). Wir brauchen die Liebe, die Unruhe des Entdeckens und Erratens, die kein Opfer scheut, die nichts fürchtet als nur ihr eigenes Erlöschen. Diese womöglich unglückliche Liebe, diese Leidenschaft ist für uns reizvoll und unentbehrlich, sie ist unser Leben.
Dass die Menschheit an der Erkenntnis im Sinne von Wissenschaft, Naturwissenschaft oder technischer Zivilisation (z.B. an atomarem Holokaust, in einer Ökokatastrophe oder an einem Killervirus aus der Retorte, wie soeben für Mäuse gemeldet, untergehen könnte), ist nicht gemeint, könnte aber als Sinn den anderthalb Zeilen S.265, Z.6 f entnommen werden unter Weglassen der restlichen 28 Zeilen. Nietzsche sagt uns in seinem Text, verdeckt durch diesen oberflächlichen Sinn, viel mehr und anderes, eben etwas von der Lust trotz Untergangs, der Lust am oder beim Untergang, von der Leidenschaft des Erkennens im biblischen Sinne, also des sexuellen Erkennens, speziell des homosexuellen.
Nr. 482: Leidenschaft der Erkenntnis, das zeichnet doch wohl die Philosophen aus. Gewisse Philosophen! Wer sind sie? Es sind Männer, mit denen wir (Nietzsche und seine Freunde) Umgang suchen. Suchen wir zuviel, wenn wir in ihnen Männer suchen, die mild, wohlschmeckend und nahrhaft sind wie richtig geröstete Kastanien? Also Männer, die man genießen kann, die sich eher beschenken lassen als etwas zu verdienen, die zu stolz sind, um sich belohnt fühlen zu können, auch keine Zeit und Gefälligkeit für den Ruhm haben. Sie sind dafür zu ernst in ihrer Leidenschaft der Erkenntnis und ihrer Redlichkeit, meint Nietzsche. Was sind das für Philosophen? Solche in einem sokratischen Symposion, etwa in Platons Symposion mit seiner immer aufgeschobenen bzw. sublimierten Männerliebe? Nietzsche weist (in Wissenschaft und Weisheit im Kampfe) auf die Vorsokratiker im Vergleich mit anderen, späteren Philosophen hin und ruft beim Anblick dieser Männer aus: "Wie schön sie sind! Ich sehe keine wüsten Gestalten darunter...".
Nr. 483: Hier spielt Nietzsche an auf den Philosophen Kant, die Kantische Erkenntniskritik, die Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis im Organ der Erkenntnis, im sogen. Erkenntnisvermögen. Objektive Erkenntnis erfordert Erkenntnis des Organs, des Vermögens, der Erkenntnis – mittels desselben? Ein Zirkel! Dinge an sich, d.h. nicht durchs Organ gesehene, sind unerkennbar. Was für ein Philosoph ist das (also Kant), verglichen mit dem aus Nr. 482? – Dieser Mann ist ungenießbar, ist vernunftverrückt.
Nietzsche spielt mit seiner Rede vom 'Organ' des Erkennens an auf das körperliche Vermögen des Erkennens im biblischen Sinne, auf das Sexualorgan. Die reine Vernunfterkenntnis scheitert an der Sinnlichkeit, z.B. am Auge. Wir können nur Erscheinungen erkennen, nur sinnlich Ausgewiesenes, nichts Übersinnliches. Vielleicht gibt es aber noch andere, bessere Organe! Womöglich für anderes, unvernünftiges Erkennen!
Morgen, wenn der Vernunftanfall vorüber ist, tröstet Nietzsche den ungenießbaren Philosophen, wirst du wieder mitten drin in diesem organischen Erkennen sein. Also zurück zur Unvernunft, der 'Vernunft des Leibes', der Lust am Menschlichen! Gehen wir schwimmen, ans Meer, und dann vielleicht nach Indien (vgl. Nr. 575), d.h. auf die glückseligen Inseln, die moralischen Antipoden! – "Laßt uns unser Glück besorgen, in den Garten gehen und arbeiten!" So hatte Kant am Ende seiner Schrift Träume eines Geistersehers Voltaires Candide zitiert und damit eine Beschäftigung mit dem unzugänglich Übersinnlichen à la Swedenborg abgelehnt.