Prof. Dr. Günter Schulte

Manuskript zu einem Vortrag (Mai 2003) über das Thema der Evangelischen Akademie Iserlohn:

Der Mensch fühlt, denkt und handelt.
Die besondere Rolle des Gehirns und der Umwelt für die Entwicklung des autonomen Menschen


Meine Ausführungen haben zwei Teile – gemäß den beiden Teilen des Vortragstitels.

  1. Teil:   Der Mensch fühlt, denkt und handelt
  2. Teil:   Die besondere Rolle des Gehirns und der Umwelt für die Entwicklung des autonomen Menschen

Meine Überlegungen schließen sich an die Arbeiten anderer Autoren an. Im ersten Teil sind es besonders Steen Olaf Welding (Die Unerkennbarkeit des Geistes. Phänomenale Erfahrung und menschliche Erkenntnis, Stuttgart 2002) und Vilaynur Ramachandran (Die blinde Frau, die sehen kann. Rätselhafte Phänomene unseres Bewusstseins. Reinbek 2001). Im zweiten Teil sind es vor allem Karl Rahner (Experiment Mensch. Theologisches über die Selbstmanipulation des Menschen. In: Die Frage nach dem Menschen, Freiburg / München 1966), Francis Fukuyama (Das Ende des Menschen. Stuttgart / München 2002) und Peter Sloterdijk (Die Domestikation des Seins, Abschnitt 4: Der operable Mensch. In: Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger. Frankfurt / M. 2001)


1. Teil: Der Mensch fühlt, denkt und handelt

Ich möchte die Aussage der Überschrift wie folgt zuspitzen und zu einer These ergänzen: "Der Mensch fühlt, denkt und hat Absichten – nicht sein Gehirn" (so formuliert von B. Kemmerling, zitiert in Welding 2002, 185). Das heißt: Die Person (das Subjekt oder der Mensch) ist es, die fühlt, denkt und handelt bzw. will – nicht ihr Gehirn. Was bedeutet das? – Es bedeutet, dass Fühlen, Denken und Wollen mentale (oder geistige) Eigenschaften sind und keine materiellen. Also kann es auch keine Naturwissenschaft des Mentalen, des Geistigen oder Seelischen geben, denn die geht allemal auf materielle Eigenschaften. Aber es kann eine kausale Erklärung mentaler Phänomene geben, eine Erforschung ihrer Ursachen. Denn wer wollte leugnen, was schon Hippokrates vor zweieinhalb Jahrtausenden lehrte:

"Die Menschen sollten aber wissen, dass nirgends anders als vom Gehirn die Freude, die Fröhlichkeit, das Lachen und Scherzen kommt." (Hippokrates 1897, 561)

Mögen also die Ursachen für mentale Zustände im Gehirn zu finden sein, so lässt sich doch der Beobachtung von Hirnvorgängen, die kausal sind für Fühlen, Denken und Wollen, nichts darüber entnehmen, was das ist: Fühlen, Denken und Wollen. Das kann ich nur von mir selbst her wissen, d.h. muss es selbst erlebt haben. (Man nennt die prinzipiell privaten oder subjektiven Empfindungen auch Qualia. Es sind die ursprünglichen sinnlichen Erlebnisse, die subjektiven Qualitäten von Schmerz, Rotempfindung, von mentalen Zuständen wie Fühlen, Denken, Wollen).

Abb.1

"Die Menschen sollten aber wissen, dass nirgends anders als vom Gehirn die Freude, die Fröhlichkeit, das Lachen und Scherzen kommt." (Hippokrates)

These: Nicht das Gehirn, sondern der Mensch, die Person ist es, die denkt, fühlt und will. Das Gehirn lässt allerdings mentale Phänomene (Denken, Fühlen, Wollen) entstehen. Aber der Beobachtung von Gehirnvorgängen lässt sich nichts darüber entnehmen, was das ist: Denken, Fühlen und Wollen.

Verfehlt wäre Francis Cricks Identifikation von Denken, Fühlen und Wollen als Verhalten von Nervenzellen und Molekülen. Er schreibt: "Ihre Freuden und Sorgen, Ihre Erinnerungen und Ambitionen, Ihr Gefühl persönlicher Identität und freien Willens sind eigentlich nicht mehr als das Verhalten einer Ansammlung von Nervenzellen und der zugehörigen Moleküle." (Zitiert nach Eisenbeis 1997, 21)


Und wenn nur noch ein vom Körper isoliertes aber funktionsfähig gehaltenes Gehirn wie in Roald Dahls Geschichte von "William und Mary" (aus Küsschen, Küsschen, Dahl 1966, 15-36) vorhanden wäre? – Auch dann gilt: Es ist die Person, die denkt, will, fühlt! (soweit das noch möglich und als tatsächlich von ihr bekundbar ist). Ebenso bei einem Gerät, z.B. dem Computer HAL 9000 in Stanley Kubricks 2001 – Odyssee im Weltraum: Nicht dieses Objekt denkt fühlt, sondern das sich darin manifestierende Subjekt (sofern es einem Subjekt, wie mir, mitteilen bzw. suggerieren kann, dass es Gedanken, Gefühle und Empfindungen hat). Es könnte allerdings auch ein sog. Zombie sei, ein Wesen ohne Bewusstsein, aber mit demselben Verhalten wie ein bewusstes Wesen. Denn Denken, Fühlen, Wollen sind nur bei mir selbst direkt in unmittelbarer Gewissheit erfahrbar.

Die Trennung von Mentalem (Geistigen) einerseits und Objektivem (Materiellen) anderseits entspricht Descartes' Unterscheidung von denkender und ausgedehnter Substanz (res cogitans und res extensa, wobei Descartes ausdrücklich unter cogitare 'Fühlen, Denken und Wollen' versteht). Diese Descartessche Unterscheidung des Geistigen und Körperlichen scheint nicht weniger evident als die immer wieder beschworene Einheit von Geist und Körper, wie ich sie an mir selbst zu erfahren scheine: Einerseits wird der Geist durch Materielles verändert, z.B. durch Psychopharmaka, Halluzinogene, Hormone usw. Andererseits beeinflusst der Geist den Körper, z. B. erkrankt er bei Stress oder bewegt sich, wenn und wie ich will. So kommt es, dass allemal eine Wissenschaft vom psycho-physischen Zusammenhang versucht und behauptet wird. Insbesondere eine auf objektive Beobachtung beruhende Neurowissenschaft, welche die Beziehungen zwischen mentalen Zuständen und Gehirnzuständen untersucht. Auffällig ist (darauf hat Steen Olaf Welding 2002, 173 besonders hingewiesen), dass die Neurowissenschaftler (wie z.B. G. Roth, dazu noch nachher) durchweg nicht zwischen mentalen Zuständen und deren Entstehung unterscheiden. Mentale Zustände und physische Ereignisse werfen sie durcheinander (Welding 2002, 152). Sie meinen stets, dass sie durch die Erklärung der Entstehung mentaler Zustände auch diese selbst erklärt hätten. Wenn sie z.B. durch Injektion bestimmter Stoffe Angst, Trauer oder Lust auslösen, dann haben sie doch nur deren Entstehung erklärt, nicht diese selbst. Diese Gefühle müssen ihnen aus eigener Erfahrung vertraut sein, sie wüssten sonst nicht, worüber die Versuchspersonen reden, wenn sie von solchen Gefühlen Mitteilung machen. Sie wüssten auch nicht, was durch solche Injektionen bei ihnen selbst ausgelöst wird.

Die Eigenschaft 'Schmerzen haben' ist in ihrer Struktur logisch anders, als die Eigenschaft 'C-Fasern zu haben, die feuern'. Sie ist "eine ego-reflexive Eigenschaft, eine Eigenschaft nämlich, die einem selbst nur dasjenige beschreibt, als was es von einem selbst erlebt oder erfahren wird. ... Dagegen beschreibt die Eigenschaft 'im Gehirnzustand S sein' kein Erlebnis", sondern etwas objektiv Gegenständliches (Welding 2002, 163). Wir sollten also zwischen einer physiologischen Erklärung und einer psychologischen Erklärung (kognitive Aufklärung mentaler Zustände) unterscheiden. Dann sehen wir, dass die neurochemische Deutung von Emotionen oder von Gedanken und Wollungen nur eine Entstehungserklärung sein kann. Sie bedeutet z. B. nicht, dass ich meinen Emotionen oder Wollungen passiv ausgeliefert wäre. Ich kann nämlich durchaus die Entstehung meines Willens als kausal determiniert beschreiben, nicht aber diesen Willen selbst (wie gleich am Beispiel des Sokrates gezeigt werden wird). Etwas anderes als die objektive Entstehungserklärung ist die subjektive kognitive Aufklärung (oder mentale Deutung) meines Willens. Sie zeigt sich in dem, was ich will.

Zur Unterscheidung von mentaler Deutung und kausaler Erklärung nun einige Beispiele (die ersten drei bei Welding 2002, 166 ff):

Abb. 2

"Warum habe ich Angst?"

a) Mentale Deutung: "Ich denke an meine Krankheit", oder "Man hat mich bedroht" ...

b) Kausale Deutung: "Im Hirnareal V1, V4 und IT feuern jetzt bestimmte Neuronen synchron" oder "Es werden z. Zt. zuviel Stresshormone produziert" ...

Zu a): Ich will wissen, worauf sich mein Erleben bezieht, z.B. wovor ich Angst habe. (Keine kausale Erklärung, nur Bezug auf mentale Zustände)

Zu b): Ich will wissen, wodurch das Erleben zustande kommt und womöglich verschwindet. (Kausale Erklärung des Entstehens)

 

Abb. 3

"Warum ist da bei der Person X eine Armbewegung?"

a) "Sie bewegt ihren Arm. Warum?" – "Sie will etwas zeigen" oder "Sie will grüßen"

b) "Ihr Arm bewegt sich. Warum?" – "In ihrem motorischen Kortex ist Areal XY aktiv"

 

Abb. 4

Wer will: ich oder mein Gehirn?

"Warum will er seinen Arm bewegen?"

a) Kognitive (oder: mentale) Aufklärung: "Er hat die Aufforderung des Arztes gehört und befolgt sie."

b) Kausale Erklärung des Entstehens: "Areal YZ ist aktiv, war es – nach Benjamin Libet – bereits 1/3 Sekunde vor dem Selbsterleben des Entschlusses"

Zu b): Es ist möglich, dass das Areal YZ ist durch Eingriff ins Gehirn (mittels Elektroden oder Magnetfeldern) künstlich stimuliert wird. Dann wird die Entstehung des Willens (Entschlusses) kausal determiniert, nicht der Wille selbst! – Künstlich erzeugte mentale Zustände sind nicht kognitiv aufklärbar. (Aber es gibt nachträgliche Rationalisierungen.)

 

Abb. 5

Sokrates im Gefängnis. Warum ist er nicht entflohen, wie er es hätte können? – Sokrates unterscheidet 1. das, ohne welches die Ursache seines Handelns (oder Wollens) nicht Ursache sein könnte: Sehen, Knochen, Gehirn usw., 2. die eigentliche Ursache seines Handelns (Wollens): seine Vernunft.

Sokrates sagt es so (Platon: Phaidon 99 b): Wenn einer sagte, dass ohne dergleichen zu haben, Sehnen, Knochen und was ich sonst noch habe, ich nicht imstande sein würde, das auszuführen, was mir gefällt, der würde richtig reden. Dass ich es aber aus eben diesem (physischen) Grunde täte anstatt wegen der Wahl des Besten, also aus Vernunftgründen, das wäre doch eine gar große und breite Untauglichkeit der Rede, wenn sie nicht imstande wäre zu unterscheiden, dass bei einem jeden Ding etwas anderes ist die Ursache und etwas anderes jenes, ohne welches die Ursache nicht Ursache sein könnte. (Letzteres also Knochen, Sehnen usw.)

 

Abb. 6

Woher das religiöse Gefühl?

"Warum erlebe ich die Gegenwart Gottes, eine kosmische Ich-Weltverschmelzung, religiöse Gefühle?"

a) "Plötzlich, im Gras auf dem Rücken liegend und in den Himmel schauend wurde die Welt vollkommen, ich spürte die Realität Gottes." (Mach-Erfahrung)

b) "Mein Gottmodul wurde stimuliert durch Michael Persingers Helm" oder "Ich habe eine bestimmte Droge eingenommen"

 

Abb. 7: Psycho-physischer Zusammenhang.

a) Physikalische Kausalität (Kausalität zwischen objektiv, d.h. für alle, Beobachtbarem): Treffen elektromagnetische Wellen bestimmter Länge auf die Netzhaut der Person A, wird sein Hirnareal XY aktiviert (verstärkter Nährstoffverbrauch).

b) Physikalisch-psychische Kausalität (Kausalität zwischen objektiv Beobachtbarem und nur subjektiv Empfindbarem. Dieses wird, wenn A nicht ich ist, möglicherweise den Beobachtern, die solche Empfindungen kennen, mitgeteilt): Wird bei der Person A Hirnareal XY aktiviert (durch Sinnesreizung oder direkte Hirnreizung bei ansonsten wahrnehmungserfahrenen Personen), empfindet diese Person Lust.

c) Eine objektive 'Definition' der subjektiven Empfindung 'Lust': Der Hirnzustand wird durch eigenes Verhalten erhalten oder wiederholt. (Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, 33: "Lust ist das Bewusstsein der Kausalität einer Vorstellung in Absicht auf den Zustand des Subjektes, sich in demselben zu erhalten.")

Bekannt ist die Lusterfahrung bei Gehirnoperationen (die am Gehirn ohne Betäubung, also bei vollem Bewusstsein durchgeführt werden können – zur Tumorentfernung etwa). Solche Patienten, bei denen (zufällig) ein Lustzentrum gereizt wurde, erzählten davon als von der schönsten Sache in ihrem Leben.

 

Abb. 8

Ratte mit drei Elektroden im Gehirn: 1. im Belohnungszentrum und 2. bzw. 3. in den Großhirnrindengebieten für rechte und linke Tasthaarempfindung.

 

Abb. 9

G. Roths Experiment: "Ich liege mit geöffnetem Schädel und freigelegtem Gehirn im Operationssaal und verfolge alles, was mit mir geschieht, über einen Fernsehmonitor oder einen Spiegel. Ich bewege mithilfe einer geeigneten Vorrichtung die Reizelektrode über meine Cortexoberfläche, senke sie hinein und stimuliere den einen oder anderen Ort meiner Großhirnrinde. Entsprechend habe ich unterschiedliche Arten von Halluzinationen. Ich kann hiermit das Entstehen des Geistes aus der Materie an mir selbst nachweisen ... Allerdings wird mir der Vorgang dabei erlebnismäßig nicht im geringsten klarer. Warum nicht?" (Zitiert bei Schulte 2000, 154 f aus Roth 1997, 331 f)

"Es ist aber nicht völlig ausgeschlossen, dass man in der Lage sein wird, zumindest im Falle einfacher Wahrnehmungen anzugeben, was im Gehirn einer Person vor sich geht, z. B. wenn sie einen runden, roten, bewegten Gegenstand sieht. In diesem Fall könnten wir in der Tat den Satz 'Herr X sieht gerade einen runden roten, bewegten Gegenstand' vollgültig ersetzen durch 'in Herrn Xs Gehirn feuern zur Zeit bestimmte Neurone synchron in Area V1, V4, IT." (Zitiert bei Welding 2002, 184 aus Roth 1997, 266)


Roth hält also nicht für völlig ausgeschlossen, durch die kausale Erklärung eines mentalen Zustandes diesen selbst zu erklären, d.h. in einem Gehirnzustand das subjektive Erlebnis zu erkennen. Roth glaubt am objektiven Gehirnzustand, an den Hirnvorgängen einer Person zu erkennen, dass diese etwas sieht, fühlt, will usw. Die Sätze, die sich nach Roth vollgültig einander ersetzen können, beschreiben völlig verschiedene Aussagen. Der Satz über die Wahrnehmung der Person kann nur verifiziert werden, wenn die betreffende Person den Satz bestätigt, wenn sie also mitteilt, eine entsprechende Empfindung zu haben. Der andere Satz über das Neuronenfeuern kann verifiziert werden durch andere neutrale Beobachter, also nicht selbst betroffene.

Roth spürt wohl die Inkongruenz selbst, indem er sagt, dass der Vorgang der Halluzinationserzeugung durch Hirnstimulation nicht erlebnismäßig klarer wird dadurch, dass er sich selbst stimuliert. Es bleibt nämlich die kategoriale Differenz von mentalen Zuständen und Gehirnvorgängen und damit die von kausaler Erklärung und psychologischer Erklärung.

Die Parallelität und d.h. nicht Zusammenführbarkeit von jenen beiden Berichten "Ich sehe rot" oder "In meinem Gehirn feuern die und die Neuronen" nennt Ramachandran in seinem Buch Die blinde Frau, die sehen kann das zentrale Geheimnis des Kosmos. Er fragt sich: Warum gibt es immer zwei Parallelbeschreibungen des Kosmos: den Bericht in der ersten Person (Ich sehe Rot) und den Bericht in der dritten Person (Er sagt er sehe Rot, wenn bestimmte Bahnen in seinem Gehirn auf eine Wellenlänge von sechshundert Nanometer stoßen)? – Wie sind die Berichte in erster und dritter Person in Einklang zu bringen? (Ramachandran 2001, 366)

Übrigens: Für die Berichte in den beiden Perspektiven, der Perspektive der ersten Person und der dritten Person, sind unterschiedliche Hirnareale zuständig (d.h. unterschiedliche Areale werden aktiviert): einmal Schläfen- und Scheitellappen rechts bei dem Bericht in erster Person, und Stirnlappen sowie temporopolarer Cortex links bei dem Bericht in dritter Person. (Vgl. Gehirn & Geist, Heft 2, 2003, S. 58).

In der objektiven Wissenschaft besteht keine Notwendigkeit des Berichts in erster Person, d.h. Bewusstsein gibt es hier nicht. Ramachandran zeigt das am Beispiel eines farbenblinden Superwissenschaftlers, dem die Funktionen des menschlichen Gehirns restlos bekannt sind. Er wird mir eine vollständige Erklärung meiner Farbwahrnehmung 'rot' geben können. Was das aber ist: rot zu sehen, rot zu erleben, das bleibt ihm unzugänglich, das kommt in seiner Erklärung nicht vor. Ramachandran schreibt: "Es sind die Aspekte meines Gehirnzustandes, die anscheinend dafür verantwortlich sind, dass die wissenschaftliche Beschreibung unvollständig ist – aus meiner Sicht." (Ramachandran 2001, 369)

'Achtung Lücke!' nennt David Papineau seinen Aufsatz zum Problem der Identität von bewussten und materiellen Eigenschaften und der vermeintlichen Erklärungslücke. Papineau meint, die Abneigung gegen die doch wohl offensichtliche Identität von Geist und Gehirn käme daher, dass phänomenale Begriffe (wie Schmerz oder Trauer) referieren (also etwas Bestimmtes bedeuten oder sich auf etwas beziehen), indem sie ihren Referenten simulieren. Z.B. ist, einen roten Kreis sich vorzustellen, ungefähr so, wie tatsächlich einen roten Kreis zu sehen. Imaginieren und Sehen ähneln einander. Imagination ist, wie David Hume sagte, eine schwache Kopie des ursprünglichen Eindrucks. Ebenso ist es beim Vorstellen von Schmerz und echtem Schmerz. Machen wir die Gleichung "Schmerz = Feuern von C-Fasern" und betrachten die beiden Seiten, so fühlen wir auf der linken Seite beim phänomenalen Begriff Schmerz ein leichtes Stechen. Nicht so bei Betrachtung der rechten Seite. Da wird die Schmerzempfindung selbst ausgelassen. Und das ist dann die besagte Lücke. "Nicht-phänomenale Begriffe unterscheiden sich von phänomenalen dadurch, dass sie die Erfahrungen verwenden, auf die sie referieren." (Pineau 2002, 240) Die nicht-phänomenalen lassen diese Erfahrungen aus. Es ist aber dann ein Fehlschluss, der sog,. "antipathetische Fehlschluss", zu behaupten, dass nicht-phänomenale Begriffe nicht in der Lage sein sollten, auf das Phänomenale, die Qualia oder das Wie-es-sich-Anfühlt, zu referieren. Empfindungen sind nichts Zusätzliches, sagt Papineau. "Empfindungen zu haben, heißt gerade, in bestimmten materiellen Zuständen zu sein, wenn wir in diesen Zuständen sind." Basta!

Auch Ramachandran geht es um die Überwindung der Trennung, d.h. die Aufhebung der Erklärungslücke. Er hält die Trennung von Mentalem und Materiellen, wie sie in den beiden Beschreibungen in erster und dritter Person zum Ausdruck kommt, für ein Übersetzungsproblem. Die Trennung wäre in diesem Falle prinzipiell überwindbar. Das Problem läge lediglich in der Nichtmitteilbarkeit der Qualia. Die unbeschreibliche Erfahrung geht ja (angeblich) bei der natürlich gesprochenen Mitteilung verloren.

Wie nun, wenn man zur Mitteilung die Sprache der Nervenimpulse benutzt?, fragt sich Ramachandran. (Mit Nervenimpulsen sind die räumlichen und zeitlichen Muster der neuronalen Aktivität gemeint, die uns beispielsweise ermöglichen, Rot zu sehen.) Man müsste die eigenen neuronalen Aktivitätsmuster vom eigenen Gehirn auf das andere Gehirn (also das Gehirn jenes farbenblinden Superwissenschaftlers, von dem eben die Rede war) übertragen: dann halluzinierte (oder phantomisiert) der höchstwahrscheinlich rot, während ich selbst es sähe. Er hätte gewissermaßen mein Quale-Erlebnis, meine subjektive Empfindung, und wüsste nun endlich, was es heißt, rot zu sehen.

Abb. 10


Ramachandran schreibt: "Im Prinzip können Sie die Qualia eines anderen Geschöpfes erleben." Im Prinzip ließe sich überhaupt alle Gehirnaktivität eines anderen auf mein Gehirn übertragen. Ich wäre dann der halluzinierende Doppelgänger des anderen. – Doch könnte es nicht auch umgekehrt sein? Wer nämlich identifiziert sich mit wem?

Bei dieser Übersetzung, d.h. Übertragung der Qualia des einen in das Erleben des anderen, ist die strukturelle und topologische Gleichheit der Gehirne vorausgesetzt, zumindest eine gewisse Entsprechung, so das man die Hirnbezirke fürs Farbensehen bei dem einen wie dem anderen zusammenschalten kann. Ist damit die Trennwand zwischen Geist und Materie überwunden (wie Ramachandran meint)? – Allenfalls die Nichtmitteilbarkeit der subjektiven Erlebnisse, oder gar des Selbstseins. Qualia oder das Selbst wären übertragbar.

Qualia und Selbst sind zwei Seiten einer Medaille, meint Ramachandran: Denn ich bin es, der Qualia tatsächlich erlebt. Was aber ist das Ich? – Nach Ramachandran folgendes: 1. Etwas, was meine diversen Eindrücke und Erinnerungen vereinigt und was einen freien Willen hat, um sich für das oder das zu entscheiden. 2. Es ist etwas, das in Raum und Zeit verkörpert ist und überdauert, bis es dann nicht mehr ist. 3. Weiterhin ist das Ich oder Selbst etwas, das im sozialen Kontext eingebettet unter Seinesgleichen lebt (die geboren wurden und sterben werden, wie es selbst).

Für alle diese Merkmale des Selbst oder Merkmale meiner selbst lassen sich Gehirnstrukturen finden, die an ihnen beteiligt sind. Vom Gehirn aus lässt sich das Selbst auch in allen Merkmalen verändern. Genetische Manipulation (was noch in den Anfängen steckt) bedarf es dazu nicht. Es reichen schon Psychopharmaka, solche Stoffe, die aus der sog. "Revolution der Neurotransmitter" (Fukuyama 2002, 67), d.h. aus der gewaltigen Zunahme der Erkenntnisse über die biochemische Struktur des Gehirns und über die in ihm ablaufenden mentalen Prozesse, hervorgingen. Der Spiegel der Neurotransmitter wie Serotonin oder Dopamin, welche die Erregungsübertragungen an den Synapsen zwischen den Nervenzellen kontrollieren, und die Art, wie die Neurotransmitter sich gegenseitig beeinflussen, wirken sich direkt auf unsere subjektiven Empfindungen von Wohlbehagen, Selbstachtung, Angst und dergleichen aus. Ihr Standartwert wird beeinflusst von Geschehnissen, die in der Umgebung ablaufen, und hat sehr viel mit dem zu tun, was wir unter Persönlichkeit verstehen." (Fukuyama 2002, 68)

Benzodiazepine bauen Ängste ab, Acetylcholon verbessert das Erinnerungsvermögen und sichert den Wissensstand. Ausdauer und Motivation werden durch Förderung des Dopaminsystems gesteigert. Schwellenwerte für Schmerz und Freude werden verschoben durch Opiate, usw.

Mit der Erschließung der Antriebsmaschine des Selbst ist die Möglichkeit der Verhaltenskontrolle gegeben. 10 % der Bevölkerung in den USA nehmen bereits die sog. Glückspille Prozak und ähnliche Mittel (Zoloft, Paxil) zur Wiederaufnahmehemmung von Serotononin. Die Pille bewirkt einen erhöhten Serotoninspiegel im Gehirn und hilft gegen Niedergeschlagenheit und geringer Selbstachtung, "beeinflusst so die wichtigste politische Emotion: das Selbstwertgefühl." (Fukuyama 2002, 70) Ebenso verbreitet ist Ritalin, ein Stimulanzmittel für das Zentralnervensystem. Es bewirkt erhöhte Aufmerksamkeit, euphorische Empfindung, gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit. Während Prozak mehr Frauen verschrieben wird (des männlichen Überlegenheitsgefühls wegen, das ihnen angeblich mangelt), so Ritalin mehr Jungen, die in der Schule nicht still sitzen können. (Man spricht von ADHS = Aufmerksamkeits-Defizit / Hyperaktivitäts-Syndrom.) Beide zusammen zielen, massenhaft verabreicht, auf die Herstellung des Normalmenschen.

Sind das Vorboten kommender Dinge, fragt Fukuyama? Anfang einer posthumanen Geschichte (Fukuyama 2002, 298)? Anfang nämlich einer die Natur des Menschen gezielt verändernden Selbstmanipulation des Menschen, oder Anfang des sich autonom selbsterschaffenden, autoplastischen Menschen?


2. Teil: Die besondere Rolle von Gehirn und Umwelt für die Entwicklung des autonomen Menschen.

'Der Mensch ist, wozu er sich macht!' So lautete eine existentialistische Devise Sartres aus dem Jahr 1946. Eine andere Formulierung war diese: 'Die Existenz des Menschen geht seiner Essenz (also dem, was er ist) voraus'. D.h.: Sein Was-sein bestimmt der Mensch selbst – durch seinen Entwurf, seine Wahl, seine Freiheit. Von Psychopharmaka (obwohl er sie selbst benutzte) oder Genmanipulation war bei Sartre noch keine Rede, auch nicht von Hirntransplantation oder Neurochips.

20 Jahre später, 1966, war das anders. Der Theologe Karl Rahner stellte "die neue Wirklichkeit und die begonnene Zukunft der Selbstmanipulation des Menschen" fest. D.h.: Der Mensch ändert sich – und zwar aktiv und planmäßig, dies in mehrfacher Hinsicht.

  1. Durch Hominisierung der Umwelt, d.h.: Er lebt in einer weitgehend selbst erzeugten Umwelt – in Wohnmaschinen, er erzeugt Kunststoffe, erfindet Nahrungsmittel usw.
  2. Durch biologische Selbstmanipulation. D.h.: Der Mensch steuert die Erbauslese, Geburtenhäufigkeit, gründet Samenbanken, manipuliert das Genom.
  3. Durch Prothesenkultur, künstliche Organe, transplantierte oder gar geklonte Organe, Herzschrittmacher, künstliche Gelenke usw.
  4. Durch Gehirnwäsche im Großen mittels Psychopharmaka.
  5. Durch Sozialmedizin, Organisation der Arbeit und Freizeit.
  6. Durch eine Weltregierung aus herangezüchteten Superintelligenzen. Die steht allerdings noch aus. Die hominisierte Welt würde damit zu "einer einzigen großen Fabrik, in der der operable Mensch haust, um sich selbst zu erfinden." (Rahner 1966, 51)

Unter Auslassung moralischer Fragen (also z.B. der sittlichen Beurteilung der Anti-Paby-Pille oder von Nieren-Transplantationen) stellt der Jesuit Rahner (Jahrgang 1904, gestorben 1984) fest: Der Mensch ist grundsätzlich operabel und darf es sein. Ja, er muss sich selbst steuern, planen und manipulieren, wenn er "in vielen Milliarden Exemplaren gleichzeitig auf der Erde existieren will."

Platon hatte in seinem Dialog Politikos (DerStaatsmann) einen spezifischeren Grund angegeben für die Notwendigkeit der Selbstmanipulation oder Selbstzüchtung des Menschen. Er meinte: Der Mensch müsse nun für sich selber sorgen, nachdem die Götter sich zurückgezogen hätten. Zwecks Zusammenlebens der Menschen in der Polis müsse von einer Schar Weiser bzw. vom (superintelligenten) Staatsmann die Züchtung geplant und durchgeführt werden und zwar so, dass unter den Menschen und im einzelnen Menschen eine Gleichverteilung und ein Gleichgewicht zwischen Besonnenheit und kriegerischer Tapferkeit (Mut) hergestellt und die Entartung beider Tugenden, also der Besonnenheit und des Mutes, einerseits zum Privatismus der geistreichen Stillen im Lande und andererseits zur militärischen Kriegslust vermieden wird. Die ungeeigneten Naturen müssen aus dem Gewebematerial des Staates, denn Platon vergleicht den Staat mit einem Gewebe, "ausgekämmt" werden. Dann kann mit den zurückbleibenden edlen und freiwilligen Naturen der gute Statt erzeugt werden, wobei die Tapferen für die gröberen Kettfäden diesen, die Besonnenen für das "fettere, weichere, einschlagartige Gespinst". Peter Sloterdijk hat das in seiner Menschenparkrede ausgeführt. (Vgl. Sloterdijk 2001, 335)

Also: Selbstmanipulation darf sein, ja soll sein. Für Rahner ist das durchaus mit dem christlichen Menschenbild vereinbar. Er schreibt: "Der Mensch ist wirklich für eine christliche Anthropologie das sich selbst manipulierende Wesen." "Denn für ein christliches Selbstverständnis ist der Mensch als Freiheitswesen vor Gott in radikalster Weise derjenige, der über sich selbst verfügt, der in Freiheit sich in seine eigene Endgültigkeit hineinsetzt." "Was durch Tod und Gericht wird, ... ist die offenbar gewordene, nackte Wirklichkeit der eigenen Endgültigkeit, zu der er sich selbst gemacht hat."

Wenn auch der Sinn menschlichen Lebens im Jenseits liegt, also das ewige Leben ist, so ist doch "das, was der Mensch ewig sein wird, ... das, wozu er sich selbst gemacht hat", sagt Rahner. Denn: "Der Mensch beginnt sein Dasein im Unterschied zu den Sachen, die immer fertig sind, ... als das radikal offene, unfertige Wesen, und wenn sein Wesen fertig ist, ist es das durch ihn selbst in Freiheit geschaffene." (Rahner 1966, 55)

Bisher bewegte sich – für den Christenmenschen – die Selbstmanipulation des Menschen im Gebiet der kontemplativ metaphysischen und glaubenshaften Erkenntnis und der sittlichen Entscheidung auf Gott hin, entschwand also, wenn man so sagen darf, indem sie entsprang, auch schon in das Geheimnis Gottes hinein." (Rahner 1966, 55) Jetzt aber zeigt sich (und das entspricht der christlichen Befreiung vom numinosen Naturzwang): "Der Mensch ist nicht mehr bloß auf Ewigkeit, sondern auf Geschichte als solche selbst hin der sich selbst Tuende." Durch aktive kulturelle Evolution setzt er die biologische Evolution fort. Er tritt der Welt und Natur herrscherlich gegenüber und ist dabei Partner des weltjenseitigen Gottes. Rahner meint sogar, dass der Mensch tun darf, was er kann, was er wirklich kann. Denn: wo er wirklich nicht darf, da geht es auch nicht. Aber "es lassen sich durchaus auch biologische, psychologische und gesellschaftlich Gesetze erahnen", meint Rahner, "die unbeschadet der Freiheit der Selbstmanipulation gewissermaßen als Regelsysteme verhindern, dass solche Selbstmanipulation im Ganzen und auf die Dauer in das wesenswidrig Absurde sich verirrt." (Rahner 1966, 60)

Doch was ist das Wesen des Menschen? Bisher war es im Christentum als personaler Geist angesetzt, der dem absoluten Geheimnis Gottes unausweichlich konfrontiert ist. (Rahner 1966, 57) Da sieht es auf den ersten Blick dann so aus, als wäre die biologische und gesellschaftliche Selbstmanipulation des Menschen ethisch-religiös irrelevant. Aber: der Mensch ist 'ein Wesen', das seine Natur aktiv bildet. Was ist dann 'das Wesen' des Menschen, das auch der Selbstmanipulation als Horizont und verpflichtende Grenze vorgegeben ist?, fragt Rahner.

Rahner erklärt: Das Christentum ist eine Religion der absoluten Zukunft. Deren Ankunft ereignet sich im Tod. Dafür steht der Tod Jesu am Kreuze, der aus Liebe geschah, und seine irdisch-fleischliche Auferstehung. (Rahner 1966, 63: "Es hat unableitbar der absoluten Liebe gefallen, in ihrer größten Niederlage zu siegen".) Entsprechend wird der Christ nach seinem Tod zwar nicht irdisch-fleischlich, aber doch himmlisch-fleischlich (was immer das sein mag) auferstehen. Er hat, wenn er glaubt, eine absolute Zukunft. Also entwirft der Christ sein Dasein auf die absolute Zukunft, das Leben nach dem Tode, hin. Dann fragt sich: Welche Beziehung kann dieser Entwurf haben zum Zukunftsentwurf der Selbstmanipulation der heutigen Menschheit?

Letztere sei keine bloße weltliche Interimsbeschäftigung vor dem Reich Gottes, das durch den Tod kommt, meint Rahner. Sie muss als Vermittlung der Gottesliebe gesehen werden. Als eine solche Vermittlung gilt im Christentum die Nächstenliebe (die tätige Interkommunikation). Jeder ist der Nächste für jeden – bei sechs Milliarden heute (und das künftige Zusammeleben von so vielen und noch mehr Menschen war es ja, was für Rahner die Selbstmanipulation nötig machte!). Soll also die Selbstmanipulation der Menschheit eine Bezug haben zur absoluten Zukunft bzw. dem Zukunftsentwurf des gläubigen, hoffenden, sterblichen, aber wiederauferstehenden Daseins, dann ist der Sinn der Selbstmanipulation die globale, postindividualistische Nächstenliebe, oder die liebende Interkommunikation in Gestalt höhere Stufen und Weisen der Sozialität. Sozialität wäre die Gestalt und Vermittlung der glaubend-hoffenden Liebe, in der die absolute Zukunft ankommt. (Rahner 1966, 65)

So sieht es aus, wenn man, wie Rahner, an die Gottesliebe glaubt, und d. h. an die absolute Zukunft, die durch den Tod aufgeht. Dann kann es, ja, darf es bei der Selbstmanipulation nur um die Gestalt und Vermittlung der Liebe gehen, schreibt Rahner. Dabei ist der Tod das Unmanipulierbare (d.h. aber nicht, das er nicht als Gen-Tod, als soziales Ende etwa durch Atombomben, als physikalisches Ende also Weltkatastrophe herbeigeführt werden könnte). Er ist die notwendige, die unvermeidbare Zukunft, meint Rahner.

Aber ist nicht letztes Ziel aller Selbstmanipulation die Vermeidung des Todes und d. h.: die Vermeidung oder Überflüssigkeit der absoluten, erhofften Zukunft eines Nachtodlebens? Wollten nicht schon die ersten biblischen Menschen sein wie Gott: unsterblich? Bedeutet nicht die Zukunft der Selbstmanipulation Rückkehr zum Baum des Lebens, um von ihm zu essen und ewig zu leben? – Rechtfertigung, Zielvorgabe und Regelung der Selbstmanipulation ist doch wohl die Abschaffung des Todes, ist Unsterblichkeit!

Wenn es aber die Nächstenliebe sein soll, was die Selbstmanipulation der Menschheit erbringt (also höhere Formen von Sozialität), dann sollte man doch Fukuyamas Warnung in seinem Buch Das Ende des Menschen bedenken. Er meint, der Mensch hätte einen Wesenskern von Natur aus, der schwerlich durch selbstmanipulative Eingriffe derart verändert werden kann, dass der Menschen sozialer würde. Der Mensch besäße ein gattungstypisches Ensemble von emotionalen Reaktionen, die ein sicherer Zufluchtsort wäre, der es erlaubte, Fühlung zu allen anderen Wesen zu halten. Wird der verändert (genetisch oder pharmakologisch), geht vielleicht die Vorstellung von menschlicher Gemeinsamkeit verloren. (Fukuyama 2002, 300).

Auch Peter Sloterdijk warnt: "Nachdem die Moderne in ihrem entgrenzten Experimentieren das System alteuropäischer Maßverhältnisse gesprengt hat, wird es die Weisheit der Zukunft sein, den Exzess und die Vorsicht neu miteinander auszugleichen. Die Weltgesellschaft wird eine Gesellschaft der Vorsicht sein, oder sie wird nicht sein." Zugleich begrüßt Sloterdijk Rahners operablen Menschen als ein mit sich selbst spielendes Subjekt, herangezogen von avancierten Biotechniken und Nootechniken. (Sloterdijk 2001, 230). Denn das ist das Entscheidende: in den intelligenten Technologien entsteht eine nicht-herrische Form von Operativität, für die Sloterdijk den Namen Homöotechnik vorschlägt. Durch sie, meint Sloterdijk, würden die "Spielräume der Irre" enger und die Matrix eines Humanismus nach dem Humanismus entstünde. Sogar "eine Ethik der feindlosen und herrschaftsfreien Beziehungen" könnte freigesetzt werden, meint Sloterdijk.

Bei dieser Beurteilung der Lage der Menschheit knüpft Sloterdijk an Heidegger an und setzt sich von ihm ab. Heidegger hatte nämlich den Weltlauf der letzten zweieinhalb Jahrtausende als eine einzige durch Seinsvergessenheit bestimmte Irre diagnostiziert, als eine mit der Entwicklung der Technik fortschreitende Heimatlosigkeit (vgl. Sloterdijk 2001, 213). Sloterdijk meint nun: "Die enormen Zuwächse an Wissen und Können bei der modernen Menschheit erzwingen die Überlegung, ob die Irre-Diagnose für sie in derselben Weise gelten kann wie für die Zeiten vor der Entfaltung des modernen Potentials" (also zu Zeiten Heideggers, der 1976 starb).

Sloterdijk vermutet, "die Theorie der Irre, mit und ohne Ziel, gehe aus einer falschen Beschreibung des Verhältnisses von Mensch und Sein hervor." (Sloterdijk 2001, 216) Falsch sei die Aufteilung des Seienden in Subjektives (Kultur, das Menschliche) und Objektives (Natur, das Mechanische und Unmenschliche) ohne Beachtung eines dritten Bereichs des sowohl Subjektiven als auch Objektiven. (Diese Idee dreier Bereiche stammt von Gotthard Günther in seinem Buch Das Bewusstseins der Maschinen von 1957.) Und dieses Dritte ist die Information (d.h. real existierendes Gedächtnis und selbstorganisierende Systeme). "Die metaphysische Unterscheidung von Natur und Kultur wird hinfällig, weil beide Seiten der Differenz nur regionale Zustände von Information und ihrer Prozessierung darstellen." – Damit wird der oben besprochenen problematischen Identität von phänomenalen oder erlebnishaften Eigenschaften einerseits und materiellen Eigenschaften andererseits ein eigener Seinsbereich zu gewiesen.

Die praktische Anwendung der (falschen, unzureichenden) Unterscheidung von Seelisch-Menschlichem einerseits und Dinglich-Mechanischem oder Unmenschlichem andererseits heißt Herrschaft. Technik erscheint dann als eine Fremdbestimmung und Versklavung von Materien und Personen, wobei deren Eigennatur nicht berücksichtigt wird. Man kann dann z.B. fürchten, "die Gene würden als Rohstoffe des biotech century dieselbe Rolle spielen wie die Kohle in der Industriellen Revolution." Oder auch, dass durch die Biotechnik das menschliche Selbst ohne Rest in die Dinglichkeit und Äußerlichkeit versenkt wird und dort verloren geht. Das sind hysterische Illusionen, hinter denen das falsche zweiwertige Denken steckt. Angesichts jenes Dritten, der real existierenden Information (und auch Gene sind solches: ein auf das materielle Minimum reduzierte Form von informierter und informierender Information) ist dieses Bild der Technik nicht mehr plausibel.

Mit den intelligenten Technologien entsteht eine nicht-herrische Technik, die Sloterdijk, wie gesagt, Homöotechnik nennt (wortanalog der Homöopathie). "Sie greift Intelligenz intelligent auf und erzeugt neue Zustände von Intelligenz." Sie berücksichtigt den Eigensinn der Sachen, entfaltet eigentlich nur diesen. Der Dialog mit der Natur löst den Krieg mit der Natur ab.

Das gilt auch für die Natur des Menschen. Es geschieht dann dem Menschen nichts Fremdes, wenn er sich weiterer Hervorbringung und Manipulation aussetzt, d.h. sich selbst autoplastisch manipuliert, wie es Karl Rahner schon 1966 formulierte. (Vgl. Sloterdijk 2001, 225)

Dabei nun gerät der Mensch immer mehr in die Rolle Gottes bzw. des Schöpfers seiner selbst (was im gewissen Sinne eine allmähliche Abschaffung Gottes bedeutet). Sloterdijk sagt: "Vielleicht ist das, was ich hier Homöotechnik nenne, nichts anderes als das, was in der Kabbala vorausgeträumt worden ist. Sie stellt bekanntlich einen Versuch dar, die skripturalen Prozeduren Gottes aufzufinden und nachzuahmen. Die Kabbalisten waren die ersten, denen klar wurde, dass Gott kein Humanist ist, sondern ein Informatiker. Er schreibt keine Texte, sondern er schreibt die Codes. Wer wie Gott schreiben könnte, der würde dem Konzept von Schrift eine Bedeutung geben, wie sie kein menschlicher Schreibender bisher verstand. Genetiker und Informatiker schreiben schon anders. Auch in diesem Sinn hat eine posthumanistische Ära begonnen." (Sloterdijk 2001 a, 135)

Das klassische Beispiel für die menschliche Schöpfergöttlichkeit ist der kabbalistische Golem des Rabbi Löw aus dem Prag Rudolfs II. (gest. 1612): die Nachschaffung des Menschen in einem intelligenten Roboter. Kann der Mensch seinem künstlichen alter ego auch eine Seele einhauchen? – Oder überzeugen ihn am Ende die intelligenten Maschinen, mit denen er sich befreundet, davon, keine Seele zu haben, d.h. davon, dass sie beide Maschinen sind? Sloterdijk meint: "Auch wenn die Roboter die Seele im technischen Zeitalter davon überzeugt haben werden, dass sie nicht sein kann, wofür sie sich einst halten wollte, so bleibt der entsubstantialisierten Seele der Stolz, an dieser Kränkung diskret zu leiden. Ihr Kummer ist ihr Seinsbeweis." (Sloterdijk 2001, 366)


Literatur

Crick 1997: Francis Crick, Was die Seele wirklich ist. Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewusstseins. Rowohlt: Reinbek 1997

Dahl 1966: Roald Dahl, Küsschen, Küsschen. 11 ungewöhnliche Geschichten. Rowohlt: Reinbek 1966

Eisenbeis 1997: Barbara S. Eisenbeis, Was denkt und fühlt – das Gehirn oder die Seele? In: Museion 2000, Glaube, Wissen, Kunst in Geschichte und Gesellschaft, Nr. 2 / 1997, S. 18-30

Fukuyama 2002: Francis Fukuyama, Das Ende des Menschen. DVA: Stuttgart / München 2002

Gehirn & Geist, Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung, Nr. 2 / 2003

Günther 1957: Gotthard Günther, Das Bewusstsein der Maschinen. Agis: Krefeld und Baden-Baden 1963

Hippokrates 1897: Hippokrates. Sämtliche Werke, Bd. II. H. Lüneburg: München 1897

Kant 1968: Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. In: Kants Werke (Akademie Textausgabe). De Gruyter: Berlin 1968, Bd. V, 155-485

Kemmerling 2000: A. Kemmerling, Ich, mein Gehirn und mein Geist: Echte Unterschiede und falsche Begriffe. In: N. Elner / G. Lüer (Hg.), Das Gehirn und sein Geist, Göttingen 2000

Pineau 2002: David Pineau, Achtung Lücke! In: M. Pauen / A. Stephan (Hg.), Phänomenales Bewusstsein – Rückkehr zur Identitätstheorie? Mentis: Paderborn 2002, S. 222-242

Platon 1959: Platon, Sämtliche Werke. Rowohlt: Hamburg 1959

Rahner 1966: Karl Rahner, Experiment Mensch. Theologisches über die Selbstmanipulation des Menschen. In: Heinrich Rombach (Hg.), Die Frage nach dem Menschen. Aufriss einer philosophischen Anthropologie. Festschrift für Max Müller zum 60. Geb., Alber: Freiburg / München 1966, S. 45-69

Ramachandran 2001: Vilnaynur Ramchandran / Sandra Blakeslee, Die blinde Frau, die sehen kann. Rätselhafte Phänomene unserers Bewusstseins. Reinbek: Rowohlt 2001

Roth 1992: Gerhard Roth, Erkenntnis und Realität. Das Gehirn und seine Wirklichkeit. In: S. J. Schmidt (Hg), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus. Suhrkamp: Frankfurt / M. 1992

Roth 1997: Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Suhrkamp: Frankfurt / M. 1997

Schulte 2000: Günter Schulte, Neuromythen. Das Gehirn als Mind Machine und Versteck des Geistes. Zweitausendeins: Frankfurt / M. 2000

Sloterdijk 2001 a: Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen. Suhrkamp: Frankfurt / M. 2001

Sloterdijk 2001: Peter Sloterdijk, Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger. Suhrkamp: Frankfurt / M. 2001

Welding 2002: Steen Olaf Welding, Die Unerkennbarkeit des Geistes. Phänomenale Erfahrung und menschliche Erkenntnis. Klett-Cotta: Stuttgart 2002


Für das Web bearbeitet: Alfred Schreiber (April 2003)